Spirituell, dramatisch, tiefsinnig
Ein Staraufgebot an Solisten, Dirigenten und Orchestern bringt revolutionär-anarchische Klänge aus der Renaissance und kühne Töne aus heutigen Tagen zu den Festspielen.

Das Floß der Medusa. Wenn es darum geht, die bedeutenden Oratorien der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufzuzählen, fehlt Hans Werner Henzes Werk nicht. Das „Floß“ wurde berühmt, gerade weil seine Uraufführung scheiterte! In Hamburg weigerten sich Mitglieder des Chores und des Orchesters, auf die Bühne zu gehen, weil einige von Henzes engagierten politischen Mitstreitern eine rote Fahne gehisst hatten. Nach tumultartigen Szenen wurde der Saal geräumt und es trat der kuriose Fall ein, dass ein musikalisches Werk nicht uraufgeführt, sondern nur „urgesendet“ wurde. Der Probenmitschnitt kam dann sogar als Doppelalbum der Deutschen Grammophongesellschaft in den Handel, und bald erwiesen doch auch Liveaufführungen in aller Welt, dass es sich bei diesem Stück nicht um plumpe politische Aktion im Geiste der 68er-Bewegung handelte, sondern um eine tiefe humanistische Botschaft, basierend auf der wahren Geschichte der Matrosen der „Medusa“, die nach dem Scheitern der Fregatte von den Offizieren, die sich in Rettungsboten in Sicherheit bringen konnten, auf einem Floß ausgesetzt wurden. Nur eine Handvoll Menschen überlebte – das erschütternde Gemälde Théodore Géricaults gibt im Louvre bis heute Zeugnis; Henzes Oratorium erneuert den Aufruf zur Humanität für seine Generation, „belehrt von Wirklichkeit, fiebernd sie umzustürzen“, wie die letzten Textworte lauten – einst von Charles Regnier gesprochen, später von bedeutenden Theatermachern bis hin zu Peter Stein.

Musikalisch-dramatische Konfrontationen. Am 18. Juli eröffnen die Salzburger Festspiele mit einer von Ingo Metzmacher dirigierten Aufführung, in der Udo Samel den Part des Erzählers übernimmt, Kathrin Zukowski singt „Madame La Mort“, Georg Nigl den „Jean-Charles“, der auf Géricaults Gemälde sterbend den rettenden roten Fetzen schwingt. In der Felsenreitschule wird die minimalistische, doch höchst wirkungsvolle Regieanweisung Henzes beeindruckenden Effekt machen: Zu Beginn der Aufführung versammeln sich alle Sänger hinter den „atmenden“ Bläsern, nur „La Mort“ steht bei den Streichinstrumenten. Nach und nach wandern die „sterbenden“ Chormitglieder auf die Seite des Todes . . . Tiefsinniger kann eine Ouverture spirituelle, wie die erste Salzburger Festspielwoche seit Langem heißt, kaum beginnen. Es folgen musikalisch-dramatische Konfrontationen von revolutionär-anarchischen Klängen aus der Renaissance und dem Barock (zwischen Orlando di Lasso, Carlo Gesualdo und Johann Sebastian Bach) mit kühnen Visionen aus dem 20. Jahrhundert und aus unseren Tagen (von Luigi Nonos „Io“ – aus dem in Salzburg mittlerweile bestens bekannten „Prometeo“ – bis Arvo Pärt und Galina Ustwolskaja). Auch die programmatischen Leitlinien der folgenden Konzerte, allen voran die Musik Dmitri Schostakowitschs, klingen in dieser Ouvertüre schon an.

Spannende Querverbindungen. In der Folge zieht ein Staraufgebot an Solisten und Dirigenten entsprechend spannende Querverbindungen, etwa lassen die Wiener Philharmoniker gleich in ihrem ersten Salzburger Konzert anno 2025 unter Lorenzo Viotti mit „Oedipus Rex“ hören, dass Igor Strawinsky nicht nur einer der vielseitigsten Komponisten der musikalischen Moderne war, sondern auch ein Verehrer seines russischen „Vorgängers“ Peter Iljitsch Tschaikowski, dessen Vierte Symphonie die Konzerte am 27. und 28. Juli beschließt. Wie Strawinskys Oratorium beschwört auch sie das Fatum, aber alles andere denn mythologisch distanziert, eher in zunächst wütender, dann resignierter Anklage höchst subjektiver Art.
Entsprechend antagonistisch geht es beim philharmonischen „Hausorchester“ der Festspiele weiter: Andris Nelsons konfrontiert am 9. und 10. August den einzigen vollendeten Satz von Gustav Mahlers Zehnter, das Adagio, mit Schostakowitschs Zehnter, die ein grimassierendes, tönendes Porträt des Diktators Josef Stalin enthält. Zwei Mal werden gedankliche und stilistische Verbindungen zu Werken Anton Bruckners geknüpft: von Riccardo Muti (15.–17. August) zwischen der f-Moll-Messe und Franz Schuberts „Tragischer“ Vierter Symphonie, von Franz Welser-Möst (28. und 30. August) von der unvollendeten Neunten zu Mieczyslaw Weinbergs Zweiter, die 1946 als Reaktion auf die sowjetischen Siegesfeiern entstand und – wie manches Werk von Weinbergs Freund Schostakowitsch in jener Zeit – zwar geradezu fröhlich ausklingt, aber über weite Strecken melancholisch, resigniert, verzweifelt tönt: Der schon zum Festivalstart bei Henze anklingende Ruf nach Humanität erklingt noch 130 Jahre nach der Rettung der letzten Überlebenden der Medusa“. Der Krieg mag gewonnen worden sein. Im Innern war er noch keineswegs zu Ende.
Dass die Philharmoniker sich unter Muti – nicht das erste Mal – einer der früher so vernachlässigten frühen Schubert-Symphonien annehmen, darf auch als programmatisch-dramaturgische Volte gewertet werden, erklingen doch die groß angelegten beiden Spätwerke des Komponisten, die „Unvollendete“ und die „Große C-Dur-Symphonie“, am 1. August in einer Interpretation durch Jordi Savall und sein Ensemble Le Concert des Nations. Und auf eine „Unvollendete“ Schubertsymphonie, nämlich auf die Skizzen zu einem Werk in D-Dur, entstanden im letzten Lebensjahr des Komponisten, 1828, beziehen sich auch die „Renderings“ von Luciano Berio. Senkrechtstarter Klaus Mäkelä stellt sie mit dem Concertgebouw-Orchester Amsterdam am 21. August Gustav Mahlers Fünfter Symphonie entgegen, einem Werk, das mit einem Trauermarsch beginnt, dann aber nach heftigen Seelenstürmen über ein von Volkstänzen durchzogenen Scherzo und das berühmte „Adagietto“, ein „Liebeslied“ für Alma Schindler, die spätere Gattin des Komponisten, in ein erstaunlich fröhliches, wenn auch musikalisch hochkomplexes Finale mündet. Gegen Ende der Festspiele scheinen sich die Knoten langsam zu lösen: Schon am 15. August zelebriert Daniel Barenboim mit dem West-Eastern Divan Orchestra Beethovens „Eroica“, ein Trauermarsch auch hier inmitten, der zu einem prometheisch-erlösenden Schlusssatz führt. Das Gustav Mahler Jugendorchester antwortet am 23. August auf die Vierte Tschaikowskis, bei der nach des Komponisten Worten das Individuum im fröhlichen Festtaumel einsam isoliert bleibt, mit der Fünften, die auch von einem Schicksalsthema beherrscht wird, das freilich zuletzt sieghaft ins Positive gewendet scheint. Dazu – mit Renaud Capuçon als Solisten – Erich Wolfgang Korngolds Violinkonzert, mit dem sich der Spätromantiker, der geschworen hatte, nichts mehr für den Konzertsaal zu komponieren, solang Hitler an der Macht war, zurückmeldete: Der erfolgreiche Hollywood-Meister arrangierte virtuos Filmmusik-Fragmente in klassischer Konzert-Form.

Von Kämpfen und Triumphen. Eine Antwort auf 1945 auch das Signal aus dem Exil zu einer vorwärtsgewandten Aufbruchstimmung. Ein Fragezeichen antwortet darauf zum Festspiel-Finale: Kirill Petrenko hat für sein Gastspiel mit den Berliner Philharmonikern am 31. August dieses Mal Mahlers letzte vollendete Symphonie gewählt, die Neunte, die ein Pandämonium des Lebens ist, mit seinen Leidenschaften, Kämpfen, kleinen Triumphen und lärmenden Anfechtungen – es mündet in einen Abschied, einen groß gesteigerten, still verdämmernden orchestralen Gesang der Entrückung von einzigartiger Schönheit.
Einen berührenderen Schlusspunkt könnten die Festspiele nicht setzen. Er korrespondiert auf bemerkenswerte Weise mit der aller subjektiven Expressivität entrückten Musik, die András Schiff einen Monat zuvor im Großen Saal des Mozarteums präsentiert: Johann Sebastian Bachs „Kunst der Fuge“. Eines jener Werke, das wie Schuberts „Unvollendete“ Fragment geblieben und dennoch auf rätselhafte Weise perfekt ist. Auch die Soloprogramme der Salzburger Solisten stehen des Öfteren in spiritueller Verbindung zu den „großen“ Konzerten der Symphonieorchester, denen auch Stargäste Glanzlichter aufsetzen, etwa Lang Lang mit Felix Mendelssohns stürmisch-geläufigem g-Moll-Klavierkonzert am Abend des 15. August im „Eroica“-Programm des West-Eastern Divan Orchestra unter Barenboim.
Einige der schönsten jungen Stimmen sind im Konzert zu hören. Marina Viotti, die mit ihrem atemberaubend zwischen Hardrock und Oper balancierenden TV-Auftritt zum Auftakt der Olympischen Spiele in Paris im Vorjahr Schlagzeilen gemacht hat, singt unter der Leitung ihres Bruders Lorenzo die Jokaste in Strawinskys „Oedipus Rex“ an der Seite von Allan Clayton in der Titelpartie. Ein Balanceakt zwischen barocken Koloraturen und scharf geschliffenen neoklassizistischen Konturen auch das, von Christoph Waltz in der Partie des neutral-distanzierten Erzählers kommentiert (27. und 28. Juli). Mélissa Petit und Patricia Nolz teilen sich die Sopransoli in Mozarts unvollendeter c-Moll-Messe in den traditionellen Aufführungen des Werks, die dieses Mal (6. und 7. August) in den Händen von Gianluca Capuano liegen: Der Chor Il Canto di Orfeo, die Musiciens du Prince – Monaco musizieren.
Eine konzertante Aufführung des ersten Aufzugs aus Wagners „Walküre“ unter Yannick Nézet-Séguin mit den Wiener Philharmonikern in Matineen am 23. Und 24. August wird begleitet vom „Lohengrin“-Vorspiel und dem „Siegfried-Idyll“, in dem sich der Bayreuther einmal in geradezu kammermusikalisch bescheidener Zurückhaltung übt. Die Winterstürme der „Walküre“ werden vom „Wonnemond“ bezwungen: Elza van den Heever und Stanislas de Barbeyrac in den Partien von Sieglinde und Siegmund widerstehen dem Hunding von John Relyea. Ohne Szenerie, aber gewiss großes Theater.
Zuerst erschienen am 31.05.2025 in Die Presse Kultur Spezial: Salzburger Festspiele