Zur Produktion: Die letzten Tage der Menschheit
Karl Kraus’ Drama Die letzten Tage der Menschheit ist nicht nur eine Anklage gegen den Krieg, sondern eine schmerzhafte Analyse der menschlichen Natur. Im Interview gibt Regisseur Dušan David Pařízek Einblicke in die Überlegungen zur Arbeit an dem Stoff.

Die letzten Tage der Menschheit ist eine Auseinandersetzung mit den Schrecken des Ersten Weltkriegs. Der Autor Karl Kraus hat das über 200 Szenen umfassende Werk zwischen 1915 und 1922 verfasst. Was erzählt uns der Text heute?
Dušan David Pařízek: Kraus spürt Ursachen und Verlauf des Ersten Weltkriegs nach. Aber es geht ihm nicht nur um Zeitgeschichtliches. Kraus sucht im Verborgenen und zwischen den Worten nach dem Übel. Die Sprache als Machtinstrument, ihre Degeneration zur Phrase, zum Mittel von Demagogie und Verdummung, wird so zu einem der zentralen Themen. Außerdem stellt er Menschen vor, die das Phänomen Krieg nur vermittelt kennen und gerade deshalb für Schauermärchen von der Front empfänglich sind. Die politische Krise wird damit als das moralische Dilemma einer Öffentlichkeit entlarvt, die mit Gewalt konfrontiert ist und sich infolgedessen selbst gewaltbereit zeigt. Die Analyse einer zerfallenden Gesellschaft – willkommen im Jahr 2025.
Der Text wurde als „Lesedrama“ verfasst. Wegen seines Umfangs und der Textform galt er lange als „unaufführbar“. Du erarbeitest eine eigene Bühnenfassung. Welche Aspekte sind dir wichtig?
Neben Kraus’ Warnung vor dem Missbrauch der Sprache seine Wut über Politik, Medien und Krieg. Will man das ins Heute transponieren, muss man nach Figurenprofilen suchen, die eine Verdichtung des Narrativs ermöglichen. Mein Ziel sind drei große dramaturgische Zusammenhänge: das Politiker- und Pressedrama, das Konfliktpotenzial einer von Patriotismus getriebenen Gesellschaft, die die Zeichen der Zeit missdeutet, und der aus alledem resultierende Abgesang auf einen Kulturbetrieb, der versucht, dem Krieg durch Kunst beizukommen.
Hast du vor, Themen wie Nationalismus und Rechtspopulismus in der Inszenierung in Bezug zur Gegenwart zu setzen?
Manche Analogien sind nicht zu vermeiden. Eingriffe in die Meinungsfreiheit, absurde Umdeutungen der Geschichte und Allianzen zwischen Medien und der politischen Exekutive findet man heute, wohin man schaut. Der Verlust von Wertemaßstäben geht einher mit dem Verfall der Sprache. Kraus zeigt es und bietet uns viel, um aktuelle Bezüge herzustellen.
Karl Kraus schrieb das Stück auch als eine Art Abrechnung mit den für Populismus empfänglichen Menschen seiner Zeit. Welche Parallelen siehst du zur heutigen Gesellschaft? Was würdest du dir von ihr wünschen?
Mit dem Krieg kommt die Angst, die gewinnt Wahlen – und regiert mit. Große Themen der Zeit wie Klimawandel, Geschlechtergerechtigkeit, soziale Fragen oder Migration weichen ihr. Oder werden von Phrasen dreschenden Populisten gezielt mit Gefährdung, sozialer Unsicherheit oder finanziellen Einschränkungen in Zusammenhang gebracht. Und viele Leute sind empfänglich dafür, hoffen auf zu einfache Lösungen. Ich würde mir wünschen, 140 Millionen Russ·innen wären nicht so geschichtsvergessen. Ich wünschte, wir alle wären nicht so geschichtsvergessen.
Die Dialoge im Stück zeichnen sich dadurch aus, dass Karl Kraus sie aus dokumentierten Straßenszenen und Begebenheiten schöpfte. In welcher Konsequenz wird sich das auf die Inszenierung auswirken?
Kraus vermag es, unsere Aufmerksamkeit auf vermeintlich irrelevante Kleinigkeiten zu lenken. Er sucht nicht nur nach dem einen, großen metaphysischen Übel. Er zeigt, dass für politisches Weltgeschehen und Krieg nicht nur wenige Mächtige verantwortlich zu machen sind, sondern auch einfache Menschen mit ihren niederen Beweggründen. Das plastisch zu machen, mit Dialekten oder – nicht nur österreichischem – Lokalkolorit und Atavismen zu arbeiten, könnte zu einem stilbildenden Faktor unserer Arbeit werden.
In manchen Ländern Europas versuchen populistische Regierungen bereits, die Kulturpolitik in ihrem Interesse zu beeinflussen. Was macht dir in diesen Zeiten Hoffnung?
Ich sehe, unter welchem Druck meine Kolleg· innen am Slowakischen Nationaltheater in Bratislava seit Monaten ihrer Arbeit nachgehen, wie kultiviert und professionell sie dabei bleiben, obwohl sie Angriffen der Regierung ausgesetzt sind, die homophob, nationalistisch, pro-russisch, anti-europäisch, persönlich usw. sind. Die selbstbewusste Haltung der Leiterin des Schauspiels, Miriam Kičiňová, und des Ensembles imponiert mir. Jede Vorstellung dort ist ein Plädoyer für den Sinn von Theaterarbeit. Und das Entscheidende: Das Publikum reagiert auf Augenhöhe und nimmt die Themen an. Kultur kann ein Forum schaffen. Das ist Grund für Hoffnung.
Das Gespräch führte Lena Wontorra
Zuerst erschienen in der Festspielbeilage der Salzburger Nachrichten