Anknüpfen an Höhepunkte
Aufsehenerregende Gastspiele,
junge Dirigentinnen,
Auftritte mit guter Tradition
Konfrontation, Neudefinition, mit Widerhaken und ohne stilistische Scheuklappen: Orchester und Dirigenten zu Gast in Salzburg.
Festspielwürdig gestaltet sich heuer schon vom Anspruch her der Auftakt zum Salzburger Sommer: Die „Ouverture spirituelle“ hebt am 20. Juli mit einer Aufführung von Olivier Messiaens letztem großen Werk, „Éclairs sur l’Au-Delà“ an. Das SWR Symphonieorchester unter Ingo Metzmacher bietet dafür eine enorme Orchesterbesetzung auf, wie man sie im Musikleben jenseits von Festspielen nicht oft zusammenbringen kann: Allein zehn Flöten schreibt der Komponist für sein Werk vor, zum Instrumentarium des romantischen Symphonieorchesters treten, wie immer bei Messiaen, auch noch zahllose Schlaginstrumente – und all das zur höheren Ehre Gottes. Auch das versteht sich bei diesem Komponisten von selbst. Sein tief verwurzelter katholischer Glaube spiegelt sich in all seinen Werken, erst recht natürlich in seinem symphonischen Opus summum, das in den letzten Lebensjahren Messiaens entstand und posthum von den New Yorker Philharmonikern unter Zubin Mehta uraufgeführt wurde. Die letzte der imposanten Messiaen-Premieren, deren innere und äußere Dimensionen für Ausführende und Publikum stets überwältigend waren.
Umstrittene Ereignisse. Die Salzburger Festspiele haben sich immer wieder an den immensen Ansprüchen Messiaens gemessen, seine gigantische Oper über Franz von Assisi kam in Teilen konzertant (einst mit Dietrich Fischer-Dieskau) und später sogar zweimal in einer aufwendigen szenischen Produktion in der Felsenreitschule heraus. Die „Éclairs sur l’Au-Delà“ sind auch bereits ein Déja-vu-Erlebnis für Salzburg-Kenner, getreu dem Motto des Intendanten Markus Hinterhäuser, der gern frühere Erfolge, aber auch umstrittene Ereignisse der Festspielgeschichte neuerlich zur Diskussion stellt.
Ebenso wie er die Konfrontation einschneidender Momente der Kulturgeschichte sicht- und hörbar machen möchte. So stehen einander in der „Ouverture spirituelle“ in den letzten Juli-Tagen ganz bewusst Zeitgenossen und Ikonen der Musikgeschichte gegenüber, Heinrich Schütz und Sofia Gubaidulina (20./21. Juli), Filmemacher Derek Jarman (22.) und die Barock-Meister Monteverdi, Steffani und Biber (23.), Victoria, Vivier, Sciarrino und Grisey (23. Juli) Ligeti und Mozart (24.), aber auch John Cage (24.), Orlando di Lasso und Wolfgang Rihm, Berio und Sciarrino (25.), bevor Joseph Haydns „Schöpfung“ unter Jordi Savalls Leitung am 26. Juli in der Felsenreitschule den Schlusspunkt markiert.
Offiziell gehört die Aufführung von Johannes Brahms’ „Deutschem Requiem“ mit Elsa Dreisig, Michael Volle und dem Wiener Singverein unter Christian Thielemann zwar noch zur „Ouverture“, doch hebt damit die Reihe der Konzerte der Wiener Philharmoniker an (28./30. Juli), die traditionsgemäß das Rückgrat des symphonischen Festspielangebots bildet. Die Reihe wird fortgesetzt mit zwei Konzerten unter Andris Nelsons (5./6. August), in denen Augustin Hadelich das Violinkonzert von Alban Berg musizieren wird und Christiane Karg das Sopransolo in Gustav Mahlers Vierter Symphonie singt. Riccardo Muti steht, das hat schon gute Tradition, dreimal am philharmonischen Dirigentenpult: Am 13., 14. und 15. August leitet er Aufführungen zweier Stücke aus den „Quattro pezzi sacri“ von Giuseppe Verdi (mit dem Staatsopernchor) und der Siebenten Symphonie von Anton Bruckner.
Das hat dann noch einen Hauch von „Ouverture spirituelle“, deren Geist auch Franz Welser-Möst bei seinen Auftritten mit den Wiener Philharmonikern (20./21. August) beschwört, wenn er zwei der pittoresken Orchestergemälde György Ligetis („Atmosphères“ und „Lontano“) mit den „Metamorphosen“ und der Tondichtung „Also sprach Zarathustra“ von Richard Strauss konfrontiert. Einer der aufsehenerregenden Dirigenten der jungen Generation dirigiert das letzte Festspielkonzert der Wiener Philharmoniker im Sommer 2023 (29. August): Jakub Hrůša begleitet Igor Levit in Johannes Brahms’ Zweitem Klavierkonzert und bringt aus seiner Heimat die Achte Symphonie Antonín Dvořáks mit – womit zwei Werke auf dem Programm stehen, die vordergründig zu den „lichten“, positiv getönten Meisterwerken der musikalischen Romantik gehören, die freilich beide inwendig voller Widerhaken und dramatischer Volten stecken.
Ein besonderes Gastspiel werden erstmals François-Xavier Roth und sein Ensemble Les Siècles absolvieren. Diese Musikergemeinschaft hat Schlagzeilen gemacht, weil sie den Originalklanggedanken weit hinein ins Repertoire des 20. Jahrhunderts getragen hat. Es gehört zum Selbstverständnis Roths und seiner Musiker, sich in Salzburg (am 2. August, 19 Uhr) zunächst einmal mit Musik von Ligeti vorzustellen, um kurz darauf (22 Uhr) ein reines Mozart-Programm mit dem Pianisten Alexander Melnikov zu bringen. Dazu passt, dass Jordi Savall mit seinem „Concert des Nations“ nach Haydns „Schöpfung“ auch Symphonien von Ludwig van Beethoven musiziert (7.und 9. August). Nahezu zeitgleich dirigiert auch Teodor Currentzis sein neues „Utopia“-Ensemble bei den beiden Aufführungen von Mozarts c-Moll-Messe in der Stiftskirche St. Peter – wobei man davon ausgehen kann, dass diese alte Salzburger Festspieltradition durch diese Interpreten ganz neu definiert wird.
Bedeutende Erinnerungen. Eine der meistdiskutierten jungen Dirigentinnen, Elim Chan, stellt sich am Pult des ORF Radio-Symphonieorchesters Wien (am 12. August) vor – mit einem Programm zweier russischer Meister des frühen 20. Jahrhunderts, einer Suite aus Sergej Prokofieffs „Romeo und Julia“ und den „Symphonischen Tänzen“ Sergej Rachmaninows.
Auch die beiden Jugendorchester, die seit Jahren im Festspielbezirk zu Gast sind, kehren heuer selbstverständlich zurück: Das West-Eastern Divan Orchestra unter Daniel Barenboim (17. August) begleitet Martha Argerich bei Chopins e-Moll-Klavierkonzert und musiziert nach der Pause Brahms’ Zweite Symphonie wiederum ein scheinbar „sonniges“ Stück mit etlichen Abgründen! Und, apropos, das Gustav Mahler Orchester unter Jakub Hrůša spielt (20. August) die Neunte Symphonie seines Namenspatrons, eines der vielschichtigsten und bewegendsten Dokumente einer Spätromantik, die stilistisch am Abgrund der musikalischen Moderne zu balancieren scheint.
Mit dieser Symphonie verbinden Festspielbesucher bedeutende Erinnerungen: In der späten Landnahme des prägenden Festspiel-Maestros Herbert von Karajan bildete gerade diese Neunte mit ihrem in Pianissimo ersterbenden Weltabschiedsfinale einen unvergesslichen Höhepunkt. Die alljährlichen Gastspiele von Karajans Berliner Philharmonikern waren damals, Anfang der Achtzigerjahre, bereits zur Tradition geworden. Sämtliche Nachfolger Karajans sind ihr treu geblieben.
Auch der aktuelle Berliner Chefdirigent, Kirill Petrenko, kommt Ende August für zwei Abende ins Große Festspielhaus. Und er nimmt die dramaturgische Herausforderung durch die diesjährigen Programme ebenso an wie jene durch die Festspieltradition: Er erinnert am ersten Abend (27. August) vor der Aufführung des viel gespielten „Heldenlebens“ von Festspielgründer Richard Strauss daran, dass heuer der 150. Geburtstag des Strauss-Zeitgenossen Max Reger zu feiern wäre: Mit dessen „Mozartvariationen“ holt Petrenko ein Werk aus dem Archiv, das bis vor einem halben Jahrhundert zu den meistgespielten Werken der deutschen Spätromantik gehörte und mittlerweile völlig in Vergessenheit geraten ist. Am Abend darauf prallen – wie zuvor schon des Öfteren in diesem Festspielsommer – die Musikwelten heftig aufeinander: Beethovens Achte Symphonie, die „Haydn-Variationen“ von Johannes Brahms, ein Werk über ein Thema, das zwar nicht von Haydn stammt, aber eine tiefgründige Auseinandersetzung des Romantikers Brahms mit der klassischen Variationsform darstellt – und schließlich: dasselbe künstlerische Unterfangen aus der Sicht des „Vaters der Moderne“ Arnold Schönberg: Er hat mit seinen Orchestervariationen op. 31 den ersten Versuch vorgelegt, seine viel diskutierte „Zwölftonmethode“ für ein ausgreifendes symphonisches Werk zu nutzen.
Internationale Diskussion. Die Berliner Philharmoniker waren dabei seine Geburtshelfer: Sie haben die Variationen unter der Leitung ihres legendären Chefdirigenten Wilhelm Furtwängler einst aus der Taufe gehoben. Sie haben Schönbergs Opus 31 dann Jahrzehnte später unter Furtwänglers Nachfolger Herbert von Karajan auch in einer singulär transparenten, viel beachteten Schallplattenaufnahme vorgelegt.
Einfacher ist die Auseinandersetzung mit diesem Hauptwerk der Zweiten Wiener Schule seither nicht geworden. Umso spannender, wenn die Berliner Philharmoniker nun unter Petrenko daran
gehen, dieses heikle Werk auch international wieder zur Diskussion zu stellen. Petrenkos programmatische Vorgaben haben dem Orchester seit seinem Amtsantritt einigen Zuwachs an zu wenig beachteten Werken jener Epoche beschert. Und zwar jenseits jeglicher stilistisch-ästhetischer Scheuklappen: Reger und Schönberg stecken für diesmal den Rahmen ab.
Und das Boston Symphony Orchestra ergänzt diesen Gedanken der Öffnung und künstlerischen Weitherzigkeit mit dem letzten Orchesterkonzert der Salzburger Festspiele 2023 (31. August) durch Aufführungen der Ballettmusik „Petruschka“ von Schönbergs Antipoden Igor Strawinsky und einer Novität: Filmmusikmeister John Williams hat ein neues, sein Zweites Violinkonzert geschrieben: Niemand Geringerer als Anne-Sophie Mutter widmet sich dem Solopart, eine rechte „Salzburgerin“, was ihre Festspielpräsenz betrifft: Seit ihrem Teenagerdebüt ist diese Geigerin aus dem sommerlichen Programm nicht mehr wegzudenken.
Wilhelm Sinkovicz
Zuerst erschienen am 20.05.2023 in Die Presse Kultur Spezial: Salzburger Festspiele