Fugen, Sonaten und Seelenlandschaften

Ausgehend von Bach, dem „Anfang und Ende aller Musik“, spannen die Solistenkonzerte und Liederabende einen vielgestaltigen Bogen.

© Kevin Kinzley

Bach „ist Anfang und Ende aller Musik“, so lautet ein Stammbucheintrag des Komponisten Max Reger. Als Motto könnten diese Worte über den Solistenkonzerten der Salzburger Festspiele 2025 stehen. „Die Kunst der Fuge“, eines der intellektuell forderndsten Werke unserer Musikgeschichte, fungiert sozusagen als Alpha und Omega. In seiner Gesamtheit ist der Zyklus von kontrapunktischen Kunstfertigkeiten bereits am Beginn der Reihe der Solistenkonzerte zu hören, gespielt von András Schiff im Großen Saal des Mozarteums (29. Juli). Am 30. August bittet der isländische Pianist Víkingur Ólafsson dann zum letzten Solistenkonzert der Saison ins Haus für Mozart und präsentiert eine Auswahl von Werken, die rund um das tonale Zentrum von E-Dur und e-Moll angesiedelt sind. Da treffen Bachs Präludium aus dem ersten Band des „Wohltemperierten Klaviers“ und seine Partita BWV 830 auf Beethovens Sonaten op. 90 und 109. Dass gerade e-Moll von alters her als für zärtliche Liebesbetrübnis und ähnliche Gefühlslagen ideal galt, passt zum Bericht des Beethoven-Biografen Anton Schindler: Demnach habe der Komponist in seinem Opus 90 die unglückliche Zuneigung des Widmungsträgers, Graf Lichnowsky, zu einer Opernsängerin vertont. Und Schubert war ohnehin der Meister der expressiven emotionalen Labilität zwischen Dur und Moll.

Ein Rätsel für die Forschung. Doch zurück zur „Kunst der Fuge“. So scheinbar abstrakt sind die Gedanken, die artifizielle Fertigkeit, das „Glasperlenspiel“ dieser Musik, dass die Forschung sie nicht einmal einer bestimmten Klangfarbe, einem Instrument zuordnen kann. War das für die Orgel gedacht, für ein Klavier (oder Cembalo) gar, wie Aufführungen in unseren Tagen suggerieren? Ging es dem Meister nur um die geistige Arbeit, die Notation kompositionstechnischer Rätsellösungen? Wir wissen es nicht. Zur Mystifizierung der „Kunst der Fuge“ trägt schließlich auch die Tatsache bei, dass der letzte „Contrapunctus“ unvollständig blieb, eine Quadrupelfuge – eine Fuge mit vier Themen, deren letztes das „B-A-C-H“ gewesen wäre, bei dessen Eintritt das Manuskript abbricht.

Viel weniger Rätsel geben uns da die Präludien und Fugen auf, die Bach in seinen beiden Bänden des „Wohltemperierten Klaviers“ gesammelt hat, mit dessen Weg durch alle Dur- und Molltonarten die Tonalität, an die sich die europäische Musik so gewöhnt hat, eigentlich erst beginnt. Pierre-Laurent Aimard, der am 22. August im Mozarteum eine Auswahl aus dem Zweiten Band der Sammlung gibt, hat immerhin die – von manchen Ästheten heftig verneinte – Frage für sich beantwortet, ob man Bach auf einem modernen Konzertflügel spielen darf. Man darf; und es wird den Zuhörern bei vielen der Präludien und Fugen auch hin und wieder warm ums Herz werden, denn anders als in der „Kunst der Fuge“ gibt sich diese Musik keineswegs „der Welt abhanden gekommen“, sondern höchst diesseitig, ausdrucksstark, hie und da aber auch voll Spiellaune und zuweilen sogar amüsant.

Beängstigendes Kaleidoskop. Bis zu einem gewissen Grad hat zumindest Dmitri Schostakowitsch diese inhaltliche Vielfalt von Bach übernommen, als er daranging, eine Folge von Präludien und Fugen zu schreiben. Eine Auswahl aus diesem Opus 87 spielt Yulianna Avdeeva am 16. August und stellt sie dem Zyklus der Préludes op. 28 von Frédéric Chopin gegenüber, der die scheinbaren Kleinformen zu einem beängstigenden Kaleidoskop subjektiver Empfindungen macht und die zunächst zum Teil völlig harmlos wirkende Musik nach Wechselbädern der Gefühle unrettbar in den Abgrund stürzen lässt.

Man hat Chopin übel mitgespielt, indem man aus dem Verband dieser – nach Bachs Vorbild durch alle Tonarten wandernden – Reihe einzelne Préludes herausgelöst hat. Ohne den größeren Zusammenhang zu kennen, geben die Stücke ein falsches Bild. Eine Verharmlosung, die auch dem Wiener Romantiker Franz Schubert zuteilwurde. Ihm hat man posthum sogar einzelne Lieder filetiert, um missliebige Störfakturen zu entfernen, die an der Dreimäderlhaus-Idylle zu nagen drohten. Bei Festspielen lassen sich Dinge zurechtrücken und neue Perspektiven finden – auch bei Musik, die durch allzu häufige Aufführungen schon dem Gewöhnungseffekt anheimgefallen ist. So können Neugierige innerhalb weniger Tage gleich zwei verschiedene Darbietungen der „Schönen Müllerin“ erleben, eine durch Florian Boesch in einem Arrangement der Klavierbegleitung für die Musicbanda Franui (12. August), eine andere durch Georg Nigl, den im Stefan Zweig Zentrum (14./15. August) Alexander Gergelyfi auf einem historischen Tafelklavier begleitet – und auf diese Weise im intimen Rahmen wirklich so etwas wie eine Originalklang-Situation herstellt.

Zur Entbiedermeierung des Schubertbildes tragen dann auch zwei Klavierabende der Festspiele bei: Igor Levit stellt am 27. August die letzte, epische Klaviersonate des Komponisten (B-Dur, D 960) in Zusammenhang mit Chopins h-Moll-Sonate und den „Nachtstücken“ op. 23 von Robert Schumann, eine Kombination, die für erkenntnisreiches Hörerlebnis garantiert. Und Arcadi Volodos widmet sich am 13. August ausschließlich Schubert und baut Brücken von den populären, aber hintergründigen „Moments musicaux“ zu Liszt-Bearbeitungen von todessüchtigen Liedern („Am Tage Aller Seelen“ und „Der Müller und der Bach“ aus der heuer damit dreifach vertretenen „Müllerin“) bis zur mittleren der drei Sonaten aus Schuberts letzten Lebensmonaten: Das A-Dur-Werk (D 959) gehört zu den rätselhaftesten Kompositionen Schuberts, die sich im zweiten Satz aus einer scheinbaren Idylle in ein Inferno verirrt, aus dem für atemberaubend lange Zeit kein Ausweg zu finden scheint.

Argentinische Vergangenheit. Pianistische Brillanz mit doppeltem Boden findet sich auch bei Daniil Trifonov, der am 31. Juli ein Programm vorstellt, das vor allem tänzerisch bewegt sein wird: Nebst Chopin-Walzern und einer Suite aus Tschaikowskis Ballett „Dornröschen“ gibt es die selten gespielte Dritte Klaviersonate Tschaikowskis und Samuel Barbers einzige, zu Unrecht selten gespielte Sonate es-Moll: sein pianistisches Hauptwerk. Kein Geringerer als Vladimir Horowitz hat sie 1950 in der Carnegie Hall uraufgeführt und noch im selben Jahr im Plattenstudio verewigt. Horowitz war es freilich auch, der sich für das ursprünglich nur dreisätzige Werk mit seinem langsamen, ausdrücklich traurigen Finale noch „einen sehr brillanten letzten Satz, jedoch mit Inhalt“ gewünscht hatte. Wie ernst Barber diesen Rat mit der nachkomponierten Schlussfuge genommen hat, belegt die Anekdote, der zufolge der Pianist Walter Gieseking die ersten drei Sätze begeistert vom Blatt spielte. Nur in der Fuge sollte er dann prompt stecken bleiben …

Wenige Tage später, nämlich am 4. August, dürfen Musikfreunde im Recital von Evgeny Kissin eine weitere sehr persönlich getönte Klaviersonate kennenlernen, die Zweite Sonate op. 61 von Dmitri Schostakowitsch, die nach der „Leningrader Symphonie“ 1943 als eine Art musikalische Selbsterfahrung des Komponisten entstand, im Rückgriff auf einige avantgardistische Elemente, die ihm von der offiziellen Kulturpolitik der Sowjetunion „verboten“ worden waren. Kissin konfrontiert dieses Werk mit hochromantischen, nicht minder subjektivistischen Chopin-Piecen und einer der Klavierpartiten von Johann Sebastian Bach.

Eine kühne Parade pianistischer Herausforderungen der Moderne französischer Provenienz rund um den Jahresregenten Pierre Boulez präsentiert Pierre-Laurent Aimard am 22. August. Und: Zwei bedeutende Geigerinnen widmen sich Spielarten der Spätromantik und des Impressionismus (Franck, Debussy und Szymanowski mit María Dueñas und Alexander Malofeev am 5. August) sowie der Hochblüte und Sprengung klassischer Formwelten (Beethoven, Schönberg und George Antheil mit Patricia Kopatchinskaja und Joonas Ahonen am 25. August).

Vielfältige Liederabende. Nicht minder weite inhaltliche Bögen spannt die Folge der Liederabende der Salzburger Festspiele 2025. Abgesehen von den schon genannten Schubert-Programmen mit Florian Boesch und Georg Nigl gibt es wieder einen reinen Schumann-Abend von Christian Gerhaher mit Gerold Huber am Klavier (28. Juli). Das Duo Diana Damrau/Jonas Kaufmann stellt dieses Mal, wieder begleitet von Helmut Deutsch, Werke der beiden Antipoden Gustav Mahler und Richard Strauss einander gegenüber (30. Juli).

Festspielgründer Richard Strauss und sein Vorbild Richard Wagner (die „Wesendonck-Lieder“) begegnen einander am 16. August bei Andrè Schuen und Daniel Heide, während die wandlungsfähige Sopranistin Sabine Devieilhe, begleitet von Mathieu Pordoy, am 3. August den Reichtum der französischen „Mélodies“ auskostet, von Gabriel Faurés Liebesliedern und Debussys „Vergessenen Arietten“ über raffinierte Vokalminiaturen von Maurice Ravel und Albert Roussel bis zu hintergründigen Chansons von Francis Poulenc.

Text: Wilhelm Sinkovicz
Zuerst erschienen am 31.05.2025 in Die Presse Kultur Spezial: Salzburger Festspiele

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31. Januar 2025
Grande Polonaise brillante, Op.22 | Salzburger Festspiele 2025 – Konzertausschnitt Yulianna Avdeeva