Klangaura und Seelentöne

Peter Eötvös’ „Drei Schwestern“ sind keine lineare Tschechow-Vertonung, sondern führen das Thema von Leid und Lähmung, Ausgeliefertsein und Hoffnung auf höherer poetischer Ebene fort.

Evgeny Titov Theater Regisseur Sommergäste Salzburger Festspiele
© Thomas Rabsch

Ein einsames Akkordeon macht den Anfang. Sein Balg saugt Luft ein und stößt Melancholie aus. Irreal, zart und verletzlich tönt dieses Schnaufen. Aus feinen, immer wieder neu ansetzenden Aufschwüngen wird ein kleiner, langsamer Rundtanz, ein Reigen wie in Zeitlupe und auf Zehenspitzen. Und plötzlich: dieser magische Moment, an dem der Gesang einsetzt. „Die Töne der Musik sind so heiter“, beginnen die drei Schwestern Olga, Mascha und Irina ihr Lamento: „Es fehlt nicht mehr viel, und wir werden den Sinn des Seins, den Sinn des Leidens erfahren.“ Wenig später ist es ein großartiger Schock, wenn sich gegen Ende dieser im Terzett ausgebreiteten Tristesse der Blick in wunde Seelen plötzlich ins Riesenhafte auszuweiten scheint: Der Klang des hinter der Bühne postierten großen Orchesters kommt zu den Protagonisten auf der Bühne und zum Ensemble im Graben hinzu. Sie leiten über zur ersten von drei – nein, nicht Akten, sondern „Sequenzen“.

Tatsächlich fängt Peter Eötvös am Ende an. Soll heißen: In seiner Musiktheaterversion von Anton Tschechows Schauspiel „Drei Schwestern“ bildet der Epilog die Eröffnung, beginnt das Ganze mit den Schlussworten. Ein wie zufällig wirkender Querschnitt durch die russische Gesellschaft in der Provinz am Beginn des 20. Jahrhunderts, scheinbar zufällig plätschernde Dialoge, die unweigerlich tief blicken lassen. „Es ist alles bereits passiert, das Leben ist schon vergangen“, erläutert der Regisseur Evgeny Titov die Situation fasziniert: „Im Rückblick stellen wir uns die Frage: Was war das eigentlich? Warum mussten wir so viel leiden? Wozu das Ganze?“

„Meine Musik ist Theatermusik, es ist keine Begleitmusik, sondern Theater in sich“: Peter Eötvös hat dieses Lebensmotto immer wieder und in verschiedenen Varianten formuliert. 1966 kam der aus Siebenbürgen stammende Ungar zum Studium nach Köln, arbeitete eng mit Karlheinz Stockhausen zusammen, übernahm später von Pierre Boulez die Leitung von dessen Ensemble Intercontemporain und entwickelte sich zu einem der bedeutendsten Komponisten, Dirigenten und Lehrer unserer Zeit. Bei den Salzburger Festspielen hat er zum Beispiel einen Bartók-Opernabend rund um „Herzog Blaubarts Burg“ dirigiert und war hier als Komponist nicht zuletzt 2016 mit der Uraufführung seines „Halleluja – Oratorium balbulum“ vertreten.
Als Eötvös 2024 80-jährig in Budapest starb, hatte er auf „Drei Schwestern“, seine erste große, 1998 in Lyon uraufgeführte Oper, noch weitere zehn Musiktheaterwerke unterschiedlicher innerer wie äußerer Dimensionen folgen lassen – darunter die Jean-Genet-Vertonung „Le Balcon“, „Angels in America“ nach Tony Kushner, aber etwa auch das „Theater mit Musik“ mit dem Titel „Der goldene Drache“, voll mit leicht absurder Tragikomik, basierend auf dem Stück von Roland Schimmelpfennig.

Dramatisch, plastisch. Ja, Theater: Tatsächlich wird Eötvös’ vielfältiges, oft von Werk zu Werk neue Facetten entwickelndes Schaffen durch eine sprachlich-gestische Dringlichkeit ausgezeichnet. Auch in rein instrumentalen Stücken spielen sich mitunter angeregte Wechselreden und Auseinandersetzungen ab, können klanglich klar umrissene Figuren in dramatischen Austausch treten – mit einer Plastizität des Ausdrucks, die immer wieder experimentell zugespitzt ist und doch auch in Traditionen wurzelt, die bis in Barock und Renaissance zurückreichen. Sein ganzes Musizieren, ob nun kreativ oder darstellend, fußt im Dialog, im Austausch. Eötvös‘ „Drei Schwestern“ unterscheidet sich von Tschechows Original, das seine Uraufführung 1901 am Moskauer Künstlertheater erlebt hat. Die seinerzeit unerhörte Dramaturgie eines Geschehens ohne eigentliche Hauptpersonen und zentrale Handlungsstränge, an deren Stelle die wie zufällig wirkende Bündelung von Nebenhandlungen treten, übersetzen und transferieren Claus H. Henneberg und Eötvös in ihrem gemeinschaftlich auf Deutsch verfassten und dann ins Russische rückübertragenen Libretto in ein Gestaltungselement, das der Musik immanent ist: jenes der Wiederholung, der variierten Wiederholung – oder, um einen Lieblingsbegriff Schönbergs zu verwenden, der „entwickelnden Variation“.

„Ich erzähle die Geschichte drei Mal“, erläuterte Eötvös, „und immer steht eine andere Person im Mittelpunkt. Dadurch bekommt die gleiche Szene jedes Mal andere Schwerpunkte.“ Dabei konzentriert sich Eötvös auf die vielen, einander überlagernden Dreiecksbeziehungen der Figuren, die übrigens alle ihre „eigenen“ Instrumente im Kammerensemble im Graben zugeordnet bekommen – und damit eine bestimmte klangliche Aura. Dass Eötvös auch harmonisch mit der Zahl drei spielt, die musikalisch repräsentiert wird durch das Intervall der Dur- oder Moll-Terz oder des Tritonus, wird zum Element einer Musik, die sozusagen an etwas erinnert, das man noch nie gehört hat: Weder biedert sie sich in einer Art von „Neo“-Stil an, noch wäre sie für ein breites Publikum spröde oder gar unverständlich. Hinzu kommt der Kunstgriff, die drei Schwestern Irina, Mascha und Olga von drei Countertenören singen und darstellen zu lassen: Die Charaktere rücken dadurch in ein Gender-Zwischenreich – oder, wie es Alain Aubin ausdrückte, die Olga der Uraufführung: „Wir sind weder Männer noch Frauen, wir sind die Seelen der drei Schwestern.“

Wehmütig, bedrohlich. Und am Ende? Was ist das für ein gespenstischer Klang in den hohen Streichern, die wie aus weiter Ferne her tönen? In der Hitze scheint die Luft zu flimmern – und zugleich eisig zu erstarren. Die Klarinette steuert wehmütige melodische Floskeln bei, unter denen das Kontrafagott immer wieder bedrohlich brodelt. „O mein Gott, wohin ist nur alles entschwunden!“, seufzt Olga. Und auf das seltsame Jaulen von Bratsche und Cello reagiert sie streng: „Lass das Pfeifen, Mascha!“

„Was uns nie loslässt und auch am Ende immer noch da ist, ist die Hoffnung“, sagt Evgeny Titov. Geboren 1980 in Kasachstan, hat er an der Theaterakademie in St. Petersburg ein Schauspielstudium absolviert und war selbst als Darsteller tätig, bevor er in Wien am Reinhardt-Seminar Regie studierte. Bei den Salzburger Festspielen begann er mit russischem Repertoire – 2019, als er als Einspringer Maxim Gorkis „Sommergäste“ rettete. In der Zwischenzeit hat er an der Oper Graz mit Wagners „Tannhäuser“ und zuletzt an der Wiener Staatsoper mit Tschaikowskis „Iolanta“ große Erfolge gefeiert. In den Rollen der drei Schwestern stehen ihm die hervorragenden jungen Sänger Dennis Orellana, Cameron Shahbazi und Aryeh Nussbaum Cohen zur Verfügung. Maxime Pascal steht im Graben, Alphonse Cemin dirigiert hinter der Bühne, es spielt das Klangforum Wien Orchestra.

Text: Walter Weidringer
Zuerst erschienen am 31.05.2025 in Die Presse Kultur Spezial: Salzburger Festspiele

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11. Dezember 2024
Drei Schwester | Salzburger Festspiele 2025 – Statement Evgeny Titov