Ouverture Spirituelle · Fatum
Ob als hohere Macht, die das Leben bestimmt, oder als inschneidendes, veranderndes Ereignis – der Auftakt der diesjahrigen Salzburger Festspiele richtet den Fokus auf das Schicksal als Movens kunstlerischer Auseinandersetzung. „Fatum“ klingt durch Prophezeiungen und Schicksalsgeschichten, durchzieht musikalische Auseinandersetzungen mit der Passionsgeschichte und evoziert dustere Tone, die in dunklen Zeiten komponiert wurden. Während vieles in der Katastrophe endet, wendet sich das Schicksal manchmal auch zum Guten.


Schicksal? Oder doch eher die banale wie tödliche Kombination von Fahrlässigkeit und Inkompetenz? Sicher ist: Im Jahr 1816 retteten sich vor Westafrika der unfähige Kapitän und hochrangige Beamte von der Fregatte „Méduse“ aus Seenot, nachdem sie etwa 150 Menschen auf ein völlig untaugliches Floß gezwungen und bald darauf im Stich gelassen hatten. Nur 15 von ihnen Überlebten die unsagbar grässlichen Umstände. Théodore Géricaults berühmtes Gemälde Le Radeau de la Méduse bot die Inspiration für Hans Werner Henzes Oratorium Das Floß der Medusa: Darin behandeln Henze und sein Librettist Ernst Schnabel die Tragik eines humanitären Skandals von anno dazumal vor dem Hintergrund der Studierendenproteste und des politischen Aktivismus der jungen Generation. 1968 ging die Uraufführung in Hamburg prompt in einem absurden Sturm von Tumulten nebst Polizeieinsatz unter. Dabei schuf Henze eine feinfühlige, erschütternde Leidensmusik. Ein Sprecher referiert die Geschehnisse: Charon, der Totenfährmann der Unterwelt. Ingo Metzmacher steht am Pult des ORF Radio-Symphonieorchesters Wien, die Chöre des BR und des WDR sowie der Salzburger Festspiele und Theater Kinderchor vereinen in der Felsenreitschule ihre vokalen Kräfte. Jakob Diehl, Georg Nigl und Kathrin Zukowski übernehmen die Solopartien (18.7.).
Hat erst Macbeths Glaube an die Prophezeiungen der Hexen seinen Aufstieg und seinen Fall ermöglicht? „Ein Fleck … da noch ein Fleck“, singt seine Lady – mit langen, am Schluss charakteristisch in kleinste Figuren zerfleddernden Tönen, und im Orchester hallen über dumpfem Rauschen schaurige Echos nach, die dem Gesang hinterherwehen. 2002 hat Salvatore Sciarrino, der Meister der psychologisierenden Klänge nahe am Nichts, der in Salzburg immer wieder tiefen Eindruck hinterlassen hat, eine knapp zweistündige Musiktheaterversion nach Shakespeares Vorlage geschaffen: Wispern, Zagen, Sorgen, Klagen aus den Abgründen schuldig gewordener Seelen. Sciarrinos Kantilenen wirken immer wieder wie Späne, abgehobelt von traditionellem Gesang. Fragmentiert, gekräuselt, unregelmäßig, erfordern sie höchste Präzision in der Ausführung. Dafür garantieren am 25. Juli die handverlesenen Solist·innen, das Klangforum Wien unter Vimbayi Kaziboni sowie das Vokalensemble Cantando Admont.

Die Sage von Ödipus führt aus, wie es sogar dann unmöglich ist, dem vorhergesagten eigenen Schicksal zu entfliehen, wenn man alles Menschenmögliche dagegen unternimmt: Ödipus tötet seinen Vater und heiratet seine Mutter, ohne es zu wissen; er verstrickt sich, durch einen Fluch beladen, ohne Absicht in Schuld – ein antiker Gedanke, keiner der Aufklärung und der modernen Rechtsprechung. Igor Strawinsky wünschte sich sein „Opern-Oratorium“ Oedipus Rex (1927) als monumentales, durch seinen lateinischen Text dem Alltag enthobenes, gleichsam kultisches Werk. Ein Sprecher, in Salzburg kein Geringerer als Christoph Waltz, holt das Geschehen auf Deutsch ans Publikum heran. Allan Clayton singt die unglückselige Titelfigur, Lorenzo Viotti dirigiert die Wiener Philharmoniker und den Wiener Singverein im Großen Festspielhaus (27./28.7.).
Weil Troja untergehen muss und Kassandra verflucht ist, verhallen ihre mahnenden Rufe ungehört – auch in Michael Jarrells Monodrama Kassandra (1994), einer Vertonung von Christa Wolfs gleichnamiger Erzählung, in der die Schriftstellerin den Trojanischen Krieg implizit mit der politischen Situation in der DDR und der angespannten Lage während des Kalten Kriegs zusammenbringt. Dagmar Manzel als Sprecherin und das Ensemble Modern unter Bas Wiegers zeigen die erschreckende Aktualität (23.7., Stiftung Mozarteum – Großer Saal).
Doch auch viele andere Prophezeiungen von Sibyllen und Seherinnen stoßen auf taube Ohren. Cordula Bürgi und das Vokalensemble Cantando Admont tragen am 21. Juli in der Kollegienkirche etwa die zerbrechlichen Schönheiten und fernen Erinnerungen von Luigi Nonos Io, frammento dal Prometeo (1981) vor, wo es heißt: „PLACA questa sventura di vivere“ – „BESÄNFTIGE dies Unglück zu leben“.
Walter Weidringer
Zuerst erschienen in der Festspielbeilage der Salzburger Nachrichten