Von Pasteten, dem Mythos und der Weltgeschichte
Ganz unterschiedliche Barockopern von Rameau, Händel und Vivaldi bieten mit ihren Liebes- und Machtspielen ein Kaleidoskop des Menschlichen, Allzumenschlichen.

Der oder das Barock? Schon da gehen die Meinungen auseinander. Es hat etwas für sich, dieses Zeitalter mit Bruno Preisendörfer augenzwinkernd als „die Postmoderne der Renaissance“ zu definieren. Aber im Gegensatz zu diesen Selbstbezeichnungen, so der Literat, sei der Begriff Barock vielmehr „Bestandteil kultureller Nachrede“. Und zwar keiner wirklich guten, so ein strenges Urteil im Rückblick des 19., vom Klassizismus geprägten Jahrhunderts. „Barocco“ dürfte auf die Bezeichnung für eine unregelmäßig geformte, vielleicht sogar als unschön empfundene Perle zurückgehen, wie sie wohl portugiesische Juweliere des 16. Jahrhunderts verwendet haben.
Ja, vielleicht unschön: Wenn die Salzburger Festspiele 2025 drei große Bühnenwerke von drei grundverschiedenen Komponisten des Barocks spielen, von Jean-Philippe Rameau, Georg Friedrich Händel und Antonio Vivaldi, dann werfen diese jeweils in eigener Manier prachtvollen Zeugnisse des Musiktheaters Schlaglichter auf ein Zeitalter der Extreme, der Differenzen, der unüberwindlich erscheinenden Gegensätze. Damit spiegeln sie unweigerlich die Probleme, Verwerfungen und Wunden der Gegenwart wider.

Vivaldi, der rote Priester. Wie lautet die alte Hollywood-Regel? Mit einem Erdbeben anfangen – und dann langsam steigern. Nun denn: Ein Erdbeben erschütterte Venedig am 4. März 1678, an jenem Tag, an dem Antonio Vivaldi zur Welt kam, als Sohn eines Musikers und einer Schneiderstochter. War das beängstigende Naturereignis jene „Lebensgefahr“, die die Hebamme zu einer Nottaufe veranlasst hatte? Oder zeigte schon das Neugeborene Anzeichen jener „strettezza di petto“, einer „Enge der Brust“, die Vivaldis Gesundheit zeitlebens belasten sollte und meist als Asthma gedeutet wird? Sicher ist, dass Vivaldi seit seiner Wiederentdeckung im 20. Jahrhundert vor allem durch seine „Quattro stagioni“ in aller Welt geliebt wird, durch jene Violinkonzerte also, die er als klingende Charakteristika der vier Jahreszeiten komponiert hat. Die Violine war, wie schon bei seinem Vater, das Hauptinstrument des kurzatmigen jungen Mannes, der allerdings für die geistliche Laufbahn bestimmt wurde und 1703 die Priesterweihe empfing.
Bald kursierten teils widersprüchliche Anekdoten über Vivaldi, der wegen seiner Haarfarbe als „il prete rosso“ („roter Priester“) bekannt war und am Ospedale della Pietà, einem Waisenhaus für Mädchen, Musikunterricht gab und mit dem Orchester dieser Hochbegabten reüssierte. Der fromme Mann habe den Rosenkranz nur aus der Hand gelegt, wenn er zur Feder griff, um eine Oper zu schreiben, heißt es. Dennoch habe er einmal einen Gottesdienst unterbrochen, um in der Sakristei rasch ein Fugenthema niederzuschreiben. Vivaldi selbst erklärte einmal, dass er sein Priesteramt „kaum länger als ein Jahr“ erfüllen konnte, „denn ich hatte inzwischen wegen meines Leidens drei Mal die Messfeier abbrechen und vom Altar wegtreten müssen“. Eine kleine Übertreibung zugunsten seiner eigentlichen Leidenschaft?
Schon während seiner umfassenden Tätigkeit am Ospedale zog es Vivaldi zur Bühne. Mochte auch die politische, militärische und wirtschaftliche Macht der Serenissima zu Vivaldis Zeit auf einen Bruchteil früherer Weltbedeutung geschrumpft sein, war doch die kulturelle Stärke nach wie vor enorm: In Venedig hatte sich etwa das neuartige Genre der Oper schon in den 1630er-Jahren vom rein höfisch-privaten Kunstgenuss in eine öffentlich zugängliche Lustbarkeit verwandelt.
In der zweiten Jahrhunderthälfte buhlten bis zu neun große und elf kleinere Opernhäuser um die Gunst des zahlenden Publikums jeglichen Standes.
Laut eigener Aussage hat Vivaldi nicht weniger als 94 Opern komponiert. Nach derzeitigem Forschungsstand ist die Musik von nicht einmal einem Drittel ganz oder teilweise erhalten. Dass Bühnenwerke der Barockzeit in so großer Zahl verschollen sind, liegt in erster Linie an der Theaterpraxis: Im Gegensatz zur Instrumentalmusik, bei der sich die Drucklegung für die Verlage lohnte, musste jede Opernaufführung auf das jeweils zur Verfügung stehende Ensemble zugeschnitten werden. Das ging mit handgeschriebenen, zugeschnittenen, überklebten, aneinander gestückelten (und dann oft vergessenen) Noten schneller und ökonomischer.
Arien wurden also nach den Wünschen und virtuosen Spezialitäten der ganz im Mittelpunkt stehenden Gesangs-Superstars transponiert, umgeschrieben, neu komponiert, gestrichen oder ausgetauscht: Die Konventionen der Barockoper erlaubten, dass eine Nummer durch eine andere ersetzt werden konnte, sofern sie die gleiche Gefühlsregung, den gleichen Affekt der jeweiligen Figur in diesem Moment der Handlung ausdrückte. So ergaben sich auch sogenannte „Pasticci“, deren Zutaten so gemischt waren wie die Fülle italienischer Pasteten: Werke, zusammengesetzt aus Musik zahlreicher Komponisten – als Attraktion, wegen Zeitdrucks oder der Freude von Sängern und Publikum an aktuellen „Hits“.

Modernes Pasticcio. Ganz in diesem historischen Sinne hat der Regisseur Barrie Kosky schon für Pfingsten zusammen mit dem Dramaturgen Olaf A. Schmitt ein modernes Konzept eines Vivaldi-Pasticcios erarbeitet: „Hotel Metamorphosis“ lässt ein erlesenes Ensemble in verschiedenen Rollen diverse mythische Wandlungen durchleben, wie sie einst der römische Dichter Ovid in seinen „Metamorphosen“ beschrieben hat. Die Kombination aus Arien und Instrumentalsätzen von Vivaldi und Ovids Texten sei „wie Stricken“, findet der Regisseur: „Wir verweben zwei Fäden, die zwar unterschiedlich sind, einander aber schön kommentieren und ergänzen.“
Cecilia Bartoli, Nadezhda Karyazina, Lea Desandre, Philippe Jaroussky und Schauspielstar Angela Winkler werden dabei u. a. zu Orpheus und Eurydike, Echo und Narziss, Pygmalion und seiner Statue. Kosky, zuvor bei den Salzburger Festspielen sowohl mit Offenbachs „Orphée aux enfers“ als auch Janáčeks „Kátja Kabanová“ erfolg reich, verspricht „eine elegische Meditation über Themen von Ovid mit Musik von Vivaldi“.
Händels Geburt. Wann wurde Georg Friedrich Händel geboren? 1685, im gleichen Jahr wie Johann Sebastian Bach, besagt das Schulwissen der Älteren. Doch an Händels berühmtem Grabmal in der Westminster Abbey, bei dem der französische Bildhauer Louis-François Roubiliac den Komponisten ganz modern als Privatmann zeigt, ohne Perücke und nicht zuletzt mit einem Notenblatt aus „Messiah“, ist „born February XXIII. MDCLXXXIV.“ ingraviert: 23. Februar 1684. Ein Fehler an so prominenter Stelle? Nein. Und bei der Lösung dieses Rätsels kommt auch Händels späterer Operntitelheld ins Spiel. Denn die Jahresanfänge im alten römischen, von Julius Cäsar im Jahr 45 v. Chr. eingeführten „julianischen“ Kalender, an dem die westliche Welt zum Teil bis in die Neuzeit festhielt, wurden historisch und regional verschieden angesetzt. In Großbritannien war das – und zwar noch bis 1752, als die Kalenderreform von Papst Gregor XIII. umgesetzt wurde – der 25. März, das Fest Mariä Verkündigung. Dadurch landet Händels Geburtstag noch im „alten“ Jahr 1684.
Mochte Venedig eine Hauptstadt der Musik gewesen sein, war London so etwas wie die Hauptstadt der Welt: Wie in früheren Zeiten an der Adria, so liefen nun die Fäden des internationalen Handels eines ganzen Imperiums an der Themse zusammen. Und auch die Menschen. Eine halbe Million Einwohner dürfte London schon 1712 gehabt haben, als Händel sich hier niederließ; bei seinem Lebensende sollen es 650.000 gewesen sein: der Prototyp des Molochs Großstadt.
In Halle an der Saale im damaligen Herzogtum Magdeburg geboren, in Hamburg bald als junger Opernkomponist bekannt, auf Studienreisen u. a. nach Florenz, Rom, Neapel und Venedig als „il caro sassone“, „der liebe Sachse“, gefeiert, Hofkapellmeister in den Diensten des Kurfürsten Georg Ludwig von Hannover, der später als George I. auf dem englischen Thron landen sollte, in London als freier Unternehmer mit einer wechselvollen, aber insgesamt glanzvollen Karriere gesegnet: Kein Wunder, dass Händel im Rückblick als der „europäische“ Komponist par excellence gilt.
Das Beste aus aller Herren Länder war in London damals gerade gut genug. Während sich das Musiktheater in Frankreich separat entwickelte, auch weil dort zumal gegenüber den in Italien gefeierten Kastraten die Skepsis überwog, zeigte sich England fasziniert von dieser reizvollen musikalischen „Importware“. 1708 erregte Nicolini als erster Kastrat in London enormes Aufsehen und nachhaltige Begeisterung. Anfangs bedeutete die Oper auch noch Sprachverwirrung, sangen die angereisten Stars doch strikt auf Italienisch, während die heimischen Größen bei Englisch blieben. „Schließlich“, so spöttelte das Satireblatt „The Spectator“ 1711, „war es das Publikum leid, die Hälfte der Oper zu verstehen, und um sich von der Mühe des Denkens zu befreien, verlangte es, dass die ganze Oper in einer unbekannten Sprache aufgeführt würde.“

Prunkvolle Oper. 1724 konnte Händel mit „Giulio Cesare in Egitto“ einen seiner Langzeiterfolge begründen: Allein in der ersten Saison kam die musikalisch besonders prunkvolle, abwechslungsreiche und doch in der psychologischen Zeichnung der Charaktere ausgeklügelte Oper auf 13 Vorstellungen. Mit Wiederaufnahmen in späteren Jahren wurden es 38, nur noch übertroffen von den 53 seines „Rinaldo“. Ab 1922 sollte dieses Stück auch Händels Wiederentdeckung als Musikdramatiker in der Neuzeit bewirken. Für das Publikum der Uraufführung kamen zur rein musikalisch-theatralischen Qualität noch mehrere Attraktionen hinzu: Zunächst waren Cäsar und Cleopatra in der gebildeten Schicht allgemein bekannte historische Figuren, die Verwicklungen der Handlung also leichter zu entwirren. Und dann war man mittlerweile an ein Zeitungs- und Verlagswesen gewöhnt, das ohne Zensur florieren konnte: Das bedeutete große, aufklärerische und satirische Romane wie etwa von Daniel Defoe, Jonathan Swift oder Henry Fielding, aber auch die Vorläufer der späteren „Yellow Press“.
Die Roman- und Streaming-Serie „Bridgerton“ projiziert diese Begeisterung zurück in eine fiktive, aber im Kern historisch korrekte Vergangenheit: Klatsch fasziniert die Massen, die gern einen Blick in die Schlafzimmer der Reichen und Mächtigen erhaschen wollen, sei er nun wahr oder erfunden, auf der Opernbühne oder in der Realität. Und spiegelt sich im von außen kommenden, starken Herrscher Cäsar nicht auch der Hannoveraner Georg auf dem englischen Thron?

Vor die Tür. Äußerlich funktionierte die Barockoper nach ähnlichen Gesetzen wie später das klassische Hollywood: Stars und Schauwerte beeindruckten das Publikum, teils erbitterte Konkurrenz verschiedener Bühnen war ganz normal. Dabei hing das höchst wechselvolle Schicksal von Händels Unternehmungen gerade auch vom Auskommen mit jenem Mezzosoprankastraten ab, der die Rolle des Giulio Cesare kreierte: Francesco Bernardi, genannt Senesino. Nach jahrelanger, erfolgreicher Zusammenarbeit erwiesen sich ihre beiden hitzigen Temperamente schließlich als inkompatibel. Als Händel den renitenten Star 1733 vor die Tür setzte, solidarisierten sich jedoch viele andere seiner Sänger mit Senesino, sodass der Komponist und Impresario schließlich nicht nur ohne Ensemble dastand, sondern auch mit der öffentlichen Meinung gegen sich …
Diese hat die illustre Salzburger Besetzung gewiss auf ihrer Seite: Christophe Dumaux (Cesare) verliebt sich in Olga Kulchynska, die als Cleopatra ihre Karten clever zu spielen weiß – und schließlich auch ihren intriganten Bruder Tolomeo ausbooten kann, den Yuriy Mynenko gibt. Lucile Richardot verkörpert die leidende Witwe Cornelia, Federico Fiorino ihren auf Rache sinnenden Sohn Sesto. Emmanuelle Haïm leitet den Bachchor Salzburg und Le Concert d’Astrée. Und vom Regisseur Dmitri Tcherniakov darf man getrost eine Inszenierung erwarten, die zeigt, wie in diesem ebenso amourösen wie politischen Spiel bald allen Blut an den Händen klebt.

Betagter Revolutionär. Fehlt noch der dritte, älteste in diesem Festspielsommerbunde der Barockkomponisten: Jean-Philippe Rameau. Mit 18 Jahren brachte er eine Weile in Italien zu, wo er in Mailand in den Diensten eines Theaterdirektors stand – aber schon mit 19 war er wieder zurück in seiner Heimat Frankreich, die er nie wieder verlassen sollte: 1683 in Dijon geboren und 1764 in Paris gestorben, war Rameau in gewisser Weise das Gegenbild zum international erfahrenen Händel und auch zum mehrfach reisenden Vivaldi. Und als Musikdramatiker obendrein ein Spätzünder: Erst mit 50 Jahren begann er, für die Opernbühne zu schreiben. Dass Rameau dabei das harmonische Denken seiner bahnbrechenden und bis heute bedeutsamen musiktheoretischen Werke sowie auch die musikalische Feinzeichnung seiner Charakterstücke für Cembalo mit einfließen ließ, hatte damals geradezu etwas Skandalöses. Jean-Baptiste Lully mochte zwar schon ein halbes Jahrhundert tot sein, doch hatte dieser eine spezielle französische Spielart der Barockoper geschaffen: fünfaktig, mit einem den König verherrlichenden Prolog; mit Chor und viel Ballett; ohne virtuose Kastraten und Da-capo-Arien, sondern mit möglichst fließenden Übergängen zwischen den Gesangs- und Instrumentalnummern. Lullys Modelle galten seinen konservativen Anhängern als sakrosankt. Rameaus fantasievolle, freiere Ästhetik, etwa seine expressivere Führung der Singstimmen, nicht zuletzt auch die glänzende Ausgestaltung dramatischer, die Handlung illustrierender Orchestersätze begeisterte den moderner gesinnten Teil des Publikums – worauf die „Lullisten“ und die „Ramisten“ vehemente Sträuße ausfochten.

Direkt ins Herz. „Seine Musik trifft unsere Herzen so direkt wie ein Sonnenstrahl, der durch die schwarze Unendlichkeit des Weltraums schneidet, bis er endlich auf das menschliche Auge trifft, auf ein grünes Blatt, eine Rosenblüte“: Wer da im wörtlichen Sinne so blumig von Rameau schwärmt, ist Teodor Currentzis. Zusammen mit seinen Chor- und Orchesterkräften von Utopia erweckt er in der Felsenreitschule Rameaus Tragédie en musique „Castor et Pollux“ (1737) zwei Mal zu konzertantem Leben. Die Dioskuren, Halb- und Zwillingsbrüder, der eine sterblich, der andere unsterblich, lieben beide die Prinzessin Télaïre, die Castor den Vorzug gibt. Castors Tod und ein Angebot von Vater Jupiter bringen Pollux in einen Gewissenskonflikt …
Reinoud Van Mechelen und Marc Mauillon geben die ungleichen Zwillinge, Jeanine De Bique singt die Télaïre. „Der Himmel, die Erde und die Wellen / sollen in tausend verschiedenen Lichtern leuchten“, heißt es im Schlusschor: „Das ist der Befehl des Herrschers der Welt, / Das ist das Fest des Universums.“ Die unregelmäßige Perle funkelt mit.
Text: Walter Weidringer
Zuerst erschienen am 31.05.2025 in Die Presse Kultur Spezial: Salzburger Festspiele