One Morning Turns into an Eternity

In One Morning Turns into an Eternity verbindet der Regisseur Peter Sellars zwei Schlüsselwerke der Moderne: Schönbergs Erwartung und Mahlers „Der Abschied“ aus Das Lied von der Erde erzählen auf ganz unterschiedliche Weise von Verlusterfahrungen und deren Überwindung. Im Interview schildert er seine Begeisterung für die beiden Werke.

© SF/Jan Friese

Ihre Neuproduktion für die Salzburger Festspiele trägt den Titel One Morning Turns into an Eternity und beginnt mit Arnold Schönbergs Erwartung. Was reizt Sie an diesem „Monodram“?

Peter Sellars: Bereits vor einigen Jahren fragte mich Markus Hinterhäuser, ob ich Interesse hätte, Erwartung zu inszenieren, und ich wusste sofort, dass die Zeit reif dafür war. Ich wollte dieses Stück schon seit den 1980er-Jahren auf die Bühne bringen, denn es ist ein ganz außerordentliches Werk. Mit Erwartung erfand Schönberg gleichzeitig eine neue Form des Theaters, der Oper und auch der musikalischen Sprache. Die Oper konzentriert sich auf das Innenleben einer einzigen Frau, und doch setzt es ein Orchester von über 100 Instrumenten ein – und offenbart damit die Unermesslichkeit der menschlichen Emotionen. Die musikalische Bandbreite reicht vom Flüstern einer einzelnen Flöte oder eines zart gestrichenen Beckens bis hin zu gewaltigen orchestralen Ausbrüchen von Schmerz, seelischem Leid oder auch überschwänglicher Freude. Erwartung ebnete den Weg für viele weitere zentrale Kompositionen des 20. Jahrhunderts, etwa Alban Bergs Wozzeck. Man kann hier nur von purer Genialität sprechen.

Erwartung wird oft als ein Werk des Expressionismus betrachtet. Was ist Ihr Zugang zu dem Stück?

Tatsächlich ist immer wieder von einem expressionistischen Meisterwerk die Rede, für mich geht es aber noch tiefer: Es ist ein ungeheuer menschliches Werk. Die Oper entstand in der Zeit, als Sigmund Freud seine Theorien zur Hysterie entwickelte und häufig Diagnosen an Frauen stellte, die sich in psychischen Extremsituationen befanden. Heute wissen wir, dass viele dieser Frauen keineswegs an Hysterie litten, sondern völlig nachvollziehbar auf eine Welt reagierten, die sie systematisch missbrauchte. Erwartung bringt diese Wahrheit zum Ausdruck: Es geht hier nicht um einen psychischen Zusammenbruch, sondern um eine Frau, die mit einer unerträglichen Realität konfrontiert ist. Das Stück nahm die Gewalt vorweg, die das 20. Jahrhundert bald darauf beherrschte, und es hat bis heute nichts von seiner Aktualität verloren.

In Ihrer Inszenierung verbinden Sie Erwartung mit „Der Abschied“ aus Gustav Mahlers Das Lied von der Erde. Warum diese Kombination?

Was könnte nach Erwartung noch folgen? Wohl nur ein weiteres Meisterwerk für eine einzelne Frauenstimme mit großem Orchester. Mahler schrieb „Der Abschied“ in dem Wissen, dass er sich am Ende seines Lebens befand – vorausgegangen waren der Verlust einer seiner Töchter, die Diagnose seiner tödlichen Herzkrankheit und sein erzwungener Rücktritt als Direktor der Wiener Hofoper. In diesem schicksalshaften Lebensabschnitt wandte er sich der chinesischen Poesie aus der Zeit der Tang-Dynastie zu, in der die Reinheit des Zen-Buddhismus ebenso zum Tragen kommt wie die Akzeptanz der Vergänglichkeit aller Dinge. Auch unser Titel One Morning Turns into an Eternity stammt aus einem dieser Gedichte – es ist eine Zeile von Wang Wei. Das letzte Stück aus dem Lied von der Erde ist ein Abschied, allerdings ein Abschied, der die Trauer transzendiert: Der Schmerz ist zwar noch fühlbar, aber die Musik bewegt sich in etwas hinein, das über die Emotionen, über das Leid hinausgeht – in den Atem, in die Ewigkeit. Wie Schönberg setzt auch Mahler ein riesiges Orchester ein, oft jedoch mit erstaunlicher Zurückhaltung. Er reduziert es immer wieder auf ein oder zwei Instrumente – eine Flöte auf einem fernen Berg, der Wind in den Bäumen, das schimmernde Mondlicht auf dem Wasser. Es ist der Klang des Atmens in der Dunkelheit. Mahler erschafft eine Traumwelt, in der die Menschen, die wir verloren haben, bei uns bleiben – in unserem Inneren.

Wie wirkt sich der Bühnenraum – die Felsenreitschule – auf die Aufführung aus?

Beide Stücke vermitteln das Gefühl, als gehörten sie in die Natur – in einen Wald oder auf einen Berg. Genau diese Möglichkeit bietet die Felsenreitschule. Die beiden Solistinnen – Ausrine Stundyte und Wiebke Lehmkuhl – und die Wiener Philharmoniker werden vor der Kulisse dieser in den Berg gehauenen Felswände zu hören sein, wodurch das Erlebnis eine elementare, gewaltige und zutiefst persönliche Dimension annehmen wird.

Bei One Morning Turns into an Eternity arbeiten Sie erneut mit dem Dirigenten Esa-Pekka Salonen zusammen …

Uns verbindet eine lange gemeinsame Geschichte, die 1992 bei den Salzburger Festspielen mit Saint François d’Assise begann. Während Olivier Messiaens Oper sechs Stunden dauerte, besteht One Morning Turns into an Eternity aus zwei Stücken mit sehr überschaubarer Länge: aus zwei kostbaren Edelsteinen, die sich wechselseitig spiegeln. Beide sagen Lebwohl, aber zugleich öffnen sie die Tür für das Entstehen einer neuen Welt.

Das Gespräch führte Antonio Cuenca Ruiz.
zuerst erschienen in der Festspielbeilage der Salzburger Nachrichten

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11. Dezember 2024
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