Vom Warten und Erwarten
„Et exspecto“: Die Ouverture spirituelle kreist 2024 um jene Hoffnung, die über den Tod hinausgeht, bringt aber auch Zweifel und Verzweiflung im Angesicht des Endes zum Klingen.
So beginnen die letzten Verse im christlichen Glaubensbekenntnis: et exspecto. „Und ich erwarte die Auferstehung der Toten und das ewige Leben“, genauer: „das Leben des kommenden Zeitalters“. Interessant, dass hier vom zuvor präsenten „Credo – Ich glaube“ abgewichen wird zugunsten eines „Ich erwarte“: vielleicht, weil die anderen Glaubensartikel schon in der Gegenwart wirken, die Ereignisse der Endzeit jedoch notwendigerweise in der Zukunft liegen. Eine bessere Zukunft hatte sich etwa Luigi Nono auf die Fahnen geschrieben. Dass seine Musik die Kraft besitzt, Utopien fühlbar zu machen und somit auf lange Sicht Erwartung und Hoffnung zu formulieren, davon konnte sich Salzburgs Publikum immer wieder aufs Neue überzeugen.
2024 wäre Nono 100 Jahre alt geworden – und die Festspiele kehren zu einem modernen Klassiker aus seiner Feder zurück: „Il canto sospeso“ (1956). In diesem wörtlich „aufgehobenen, eingestellten, schwebenden Gesang“ verwendet Nono Abschiedsbriefe hingerichteter Menschen aus dem antifaschistischen Widerstand und setzt diese auf der Basis des Serialismus, aber auch in Anlehnung an die Raumklangwirkung und Polyphonie der Renaissance sowie italienische Madrigalkunst in Musik – abstrahiert, verfremdet, mit Trauerflor. Tobias Moretti führt als Sprecher die Solistenriege an, die zum ORF Radio-Symphonieorchester Wien und dem Chor des Bayerischen Rundfunks hinzutritt. Maxime Pascal am Dirigentenpult kombiniert Nono mit einem seiner direkten Vorgänger in Bezug auf einen Begriff von Kunst, der auf gesellschaftliche und politische Haltung pocht: Luigi Dallapiccola. „Il prigioniero“ ist ein ebenso düsterer wie stringenter, packender Einakter, in dem anhand der Spanischen Inquisition auch Schrecken des Zweiten Weltkriegs verhandelt werden. Tanja Ariane Baumgartner, Georg Nigl und John Daszak garantieren Gänsehaut.
Wellen, Finsternis. Zwei weitere konzertante Opernaufführungen bedeutender Zeitgenossen mit dem Klangforum Wien komplettieren das Bild. Ins Mystisch-Allgemeine zielt Beat Furrer mit „Begehren“ (2001): Darin verbinden sich antike Texte rund um den Orpheus-Mythos mit neuzeitlichen Echos, überlagern einander Wellen und Spiralen des Abschieds zwischen Ihr (Sarah Aristidou) und Ihm (Christoph Brunner). Furrer steht persönlich am Pult.
Und in „Koma“ (2016/18) von Georg Friedrich Haas nach einem Libretto von Händl Klaus liegt Michaela in einem Wachkoma – Badeunfall oder Suizidversuch? Haas verbindet suggestive Musik mit existenzieller Finsternis, die er teils auch auf der Bühne einfordert. Unter Bas Wiegers und mit ausgesuchten Stimmen verspricht das eine intensive Musiktheatererfahrung.
Doch auch das reine Konzertprogramm der Ouverture hat es in sich – bringt Warten und Erwartung, die Furcht vor dem Künftigen und die Freude darauf, den Ausblick und den Vorschein quer durch die Jahrhunderte zum Klingen. Der Glaube an die Auferstehung erfordert dabei unweigerlich die Konfrontation mit dem Tod: in Johann Sebastian Bachs „Matthäus-Passion“, einem Monument der abendländischen Musikgeschichte. Unter Teodor Currentzis singen und spielen die Kräfte von Utopia, Julian Prégardien und Florian Boesch sind als Evangelist und Jesus zu erleben. Ein ganz anders geartetes Gegenstück dazu bildet Georg Friedrich Händels grandioses Oratorium „Israel in Egypt“, das mit der Vernichtung der pharaonischen Streitmacht im Roten Meer endet – ein Sujet von bestürzender Aktualität. Monteverdi Choir und English Baroque Soloists sind Experten für Händels Subtilität ebenso wie für seinen überwältigenden Prunk.
Dazu schlägt die Ouverture spirituelle immer wieder große Brücken zwischen Zeiten, Stilen und Bedeutungsnuancen: Musik von Antoine Brumel und Thomas Tallis bis hin zu György Kurtág, Sofia Gubaidulina oder Arvo Pärt verbindet sich zu einzigartigen Erfahrungen. Und das in Deutungen durch Vox Luminis, The Tallis Scholars, Christoph Sietzen, Jordi Savall, Patricia Kopatchinskaja und viele weitere. Zusammen bringen sie Musik der Hoffnung wie der Verzweiflung zum Klingen, sie loben Gott im Te Deum und klagen im De profundis aus der Tiefe zu ihm, sie beweinen Verstorbene: Das „Et exspecto“ ist Trauer, Trost und Erwartung zugleich.
Walter Weidringer
Zuerst erschienen am 11.05.2024 in Die Presse Kultur Spezial: Salzburger Festspiele