Spielball der Emotionen mit Platz für Interpretationen: Was ist eine Symphonie?
Bei Beethovens Symphonien geht es immer auch um inhaltliche Botschaften, nie nur kunstvolles Formenspiel.
Von Werken Gustav Mahlers über Anton Bruckner bis hin zu Arnold Schönberg: berühmte Dirigenten und ihre Festspiel-Programme.
Symphonien, was sonst? Welche Gattung der Instrumentalmusik sollte die großen Orchesterkonzerte eines Festspielsommers dominieren? Die Frage „Was ist eine Symphonie?“ stellt sich nicht. Jedenfalls nicht den Besitzern eines Konzertabonnements. Vielleicht ist das aber doch ein wenig so wie mit der Zeit. Jeder, das hat schon der heilige Augustinus halb im Scherz, halb im Ernst konstatiert, weiß, was die Zeit ist – solang ihn niemand danach fragt . . . Ein Blick ins Salzburger Konzertprogramm des Jahres 2024 macht in Bezug auf diese Fragestellung auch Kenner stutzig, Schon das allererste Programm der Wiener Philharmoniker – unter Herbert Blomstedt (28. und 30. Juli) konfrontiert uns mit dem sogenannten „Lobgesang“ von Felix Mendelssohn Bartholdy. Nach der üblichen Zählung von dessen Symphonien ist das seine Zweite, wenn auch der Titel, wie in der Salzburger Programmbroschüre angegeben, konkret lautet: „Eine Sinfonie-Kantate nach Worten der Heiligen Schrift“. In Arien, Chorälen und Ensemblesätzen besingen Chor und Solisten nach dem formalen Vorbild Bach’scher oder Händel’scher Kantaten den Schöpfer. Drei (im Vergleich zur folgenden Vokalmusik kurze) instrumentale Einleitungssätze gehen voran.
Dergleichen als Symphonie zu bezeichnen, haben Musikfreunde 200 Jahre später keine Bedenken. Immerhin ist das große Vorbild Mendelssohns diesbezüglich ja wohl Beethovens Neunte Symphonie; nur dass bei ihm die Balance zwischen den Teilen, die gesungen werden, und jenen, die dem Orchester vorbehalten sind, nicht ganz zu stimmen scheint. Aber was formale Extravaganz betrifft, sind wir ja spätestens seit Gustav Mahler allerhand gewöhnt. In seiner Achten setzt der Chor gleich nach einem knappen Orgel-Auftakt ein, und in der Folge wird 80 Minuten lang nahezu pausenlos gesungen. Dennoch kommt niemand auf die Idee, Mahler die Berechtigung abzusprechen, das Werk eine Symphonie zu nennen.
Welten aufbauen. Wobei in Salzburg anno 2024 zwar drei Mahler-Symphonien auf dem Programm stehen, die aber alle reine Instrumentalwerke sind: die Nummern 5, 6 und 9. Zwei davon sind sogar viersätzig wie die klassischen Vorbilder, auf die wir uns gern bezogen hätten, um unsere Frage abzuhandeln, wäre uns nicht Mendelssohn Bartholdy dazwischengekommen. Mahler also, der ab seiner Zweiten immer wieder Solostimmen oder Chöre bemüht, genügten hie und da tatsächlich auch die Orchesterinstrumente, um seine oft zitierte Antwort auf unsere Frage zu geben: „Mir heißt eine Symphonie schreiben, eine Welt aufbauen.“ Diese „Welten“, die er für uns gebaut hat, könnten unterschiedlicher nicht sein. Die Fünfte etwa beginnt, ungewöhnlich genug, mit einem Trauermarsch, setzt sich dann in einem stürmischen Allegro fort, dem ein von Ländler-Klängen durchsetztes Scherzo folgt. Der Disparatheit nicht genug, folgen noch das – seit seiner Verwendung als Filmmusik in Viscontis „Tod in Venedig“ allseits wiedererkennbare – „Adagietto“ und ein lebhaft-fröhliches Finale. Womit Mahler den extremen Gegensatz zu den Einheitsbestrebungen der Klassiker formuliert hätte: Rang Beethoven sogar in der formal ausufernden Neunten um rigide Organisation inhaltlicher Zusammenhänge, reiht Mahler unterschiedliche Bausteine aneinander und gibt Interpreten wie Publikum eine eigenwillige Symphonie-Nuss zu knacken. Manfred Honeck hat das Werk für sein Gastkonzert mit dem Pittsburgh Symphony Orchestra (22. August) als Hauptstück gewählt. Zuvor musiziert man mit Yefim Bronfman Rachmaninows Drittes Klavierkonzert; für klassische Begriffe auch eine grenzsprengende, jedenfalls nicht hermetisch abgezirkelt gebaute Komposition.
Hammer schlagen. Einen ganz anderen Symphonie-Begriff hat Mahler in seiner folgenden, der Sechsten Symphonie formuliert, einem Werk, das Sir Simon Rattle immer wieder in entscheidenden Momenten seiner Karriere dirigiert hat. Zuletzt bei seinem Amtsantritt als Leiter des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks, mit dem er am 31. August den Abschluss der Salzburger Festspiele markiert: Die Sechste ist zwar traditionsbewusster konstruiert als das Vorgängerwerk: in vier Sätzen stürmt es aber trotzig einem ungewissen Schicksal entgegen. Die ungewöhnliche Programmatik ist vom ersten Einsatz des Marschrhythmus im Kopfsatz unüberhörbar.
Mögen auch im Andante die Kuhglocken läuten und eine Traum-Szenerie hervorzaubern. Wir werden deren Irrealität im Finale inne, wenn im wahrsten Sinne des Wortes der große Hammer zuschlägt: Mahler hat ihn als Orchesterinstrument erfunden und sich damit viel Spott eingehandelt. Für sein Ausdrucksstreben hat er ihn gebraucht. Und doch hat er den letzten, den dritten Hammerschlag bei der Revision der Partitur gestrichen. Die Sechste markierte aber nicht den Schluss des Abenteuers Symphonie.
Bei den Festspielen steht denn auch heuer noch seine Neunte auf dem Programm. Andris Nelsons dirigiert sie im zweiten Programm der Wiener Philharmoniker (10./11. August). Es ist ein Werk des Abschieds, das nach heftigen Liebes- und Lebensstürmen in ein groß gesteigertes, aber im Nichts verklingendes Adagio mündet. Spannend, das formale Vorbild dieser außergewöhnlichen Anlage quasi direkt vergleichen zu können: Peter Iljitsch Tschaikowksis „Pathétique“, unverkennbar prägend für Mahlers Neunte, erklingt am 10. August, gespielt vom ORF Radio-Symphonieorchester Wien unter Hankyeol Yoon.
Mahlers anderer Stammvater ist Anton Bruckner, der anlässlich seines 200. Geburtstag mehrmals im Salzburger Sommer gewürdigt wird: von den Wiener Philharmonikern unter Riccardo Muti mit der Achten (15., 17. und 18. August), von den Berlinern unter Kirill Petrenko mit der Fünften (25. August). Petrenko bringt für den traditionellen Doppelschlag der Berliner Philharmoniker zu Sommer-Ende (26. August) ein weiteres Werk eines Jahresregenten mit: Allzu wenig beachtet wird ja die Tatsache, dass Anton Bruckner und Friedrich Smetana im selben Jahr, 1824, geboren wurden. So fügt sich der Zyklus „Mein Vaterland“, mit der beliebten „Moldau“ an zweiter Stelle, gut ins diesjährige Programm. Die tönende Bilderfolge war ursprünglich vierteilig – wie eine klassische Symphonie. Sie schloss mit „Aus Böhmens Hain und Flur“. Später hat sich Smetana entschlossen, noch zwei weitere historische Bilder anzufügen. Wobei es ihm wie den großen Vorbildern bei seiner programmatisch grundierten Musik weniger um das effektvolle Arrangement illustrativer Details ging als um die Wahrung weit gespannter formaler Bögen.
Inhaltliche Botschaften. An der Einigung des scheinbar Unvereinbaren hatte schon Ludwig van Beethoven hart gearbeitet: Für seine mit inhaltlichen Verweisen versehene „Sinfonia pastorale“ merkte er vorsichtshalber auf dem Titelblatt an: „Mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei“. Dass es bei seinen Symphonien aber immer auch um inhaltliche Botschaften, nie nur um ein kunstvolles Formenspiel ging, das wird in Salzburg heuer wohl beim Originalklang-Pionier Jordi Savall und seinem Ensemble Le Concert des Nations hörbar, die sich am 6. und 9. August von den frühesten, kurz nach 1800 entstandenen Symphonien bis zur Neunten von 1824 hocharbeiten werden. Wobei die explosiven Kräfte, die gerade in der Neunten gebündelt werden, schon ein paar Jahre nach Beethovens Tod in Paris explodieren sollten. Dort amalgamierte Hector Berlioz, unbekümmert um die Schockwirkung auf das Publikum, seine persönliche Befindlichkeit samt tragischer Liebesgeschichte und deren albtraumhafter psychologischer Verarbeitung zur fünfsätzigen „Symphonie fantastique“ (zu hören bei den Wiener Philharmonikern unter Yannick Nézet-Séguin am 29. August).
Mit diesem Werk war der Damm gebrochen. Die Symphonie war zum Spielball der Emotionen geworden: Berlioz’ Mitstreiter Franz Liszt machte den Begriff der „Symphonischen Dichtung“ hoffähig. Und es folgten etliche Meisterwerke, die klassische Formgebung mit inhaltlichem Reichtum zu verbinden trachteten. Gipfelwerke sind darunter, in jeder Hinsicht etwa die „Alpensinfonie“ von Richard Strauss (unter Gustavo Dudamel am 24./25. August), die die Freuden einer Alpenwanderung illustriert, aber durchaus metaphysischen Gehalts sein dürfte; immerhin hieß sie in der Skizze frei nach Nietzsche: „Der Antichrist“ – und definiert die Symphonieform in einem großen, fast 50-minütigen Bogen neu.
Pittoreske Nacherzählung. Wie es Arnold Schönbergs tat, der sein Opus 5, „Pelleas und Melisande“, symphonisch durch und durch konzipierte, in einem großen Satz über eine pausenlose Dreiviertelstunde gebündelt als pittoreske Nacherzählung der einzelnen Momente in Maurice Maeterlincks gleichnamigem Theaterstück. Wir kennen es auch in einer musiktheatralischen Version von Claude Debussy. Schönberg hat es in eine Art Theater vor dem geistigen Auge verwandelt, geordnet im Sinne einer ins Riesenhafte gedehnten Sonatensatz-Form. Architektonisch weniger experimentell wirkt Dmitri Schostakowitschs Fünfte Symphonie, das Werk eines vorgeblichen Rückzugs. Vorgeblich deshalb, weil der russische Meister mit seiner Vierten ein radikales Konzept moderner Neudeutung und Überhöhung der klassischen Symphonieform vorgelegt hatte. Eine Komposition, die in ihrem avantgardistischen Geist sämtlichen kulturpolitischen Konzepten des stalinistischen Terrorregimes zuwiderlief und nicht einmal uraufgeführt werden durfte.
Mit der Fünften antwortete Schostakowitsch auf die Kritik und legte ein scheinbar konventionell gebautes Werk vor, dessen Subtext allerdings allerhand über seine persönliche Lage erzählt, über die Nöte des Künstlers in Zeiten der Bedrängnis. Das allerdings muss ein Interpret dem Publikum ein knappes Jahrhundert später eindringlich vor Ohren zu führen wissen: In Salzburg kommt diese Rolle dem viel gelobten jungen Klaus Mäkelä zu, der die Symphonie am 21. August mit Oslo Philharmonic in der Felsenreitschule aufführen wird. Drei Tage später bietet das Gustav Mahler Jugendorchester unter Ingo Metzmacher zwischen Werken von Beethoven, Nono und Wagner eine der seltenen Begegnungen mit Arnold Schönbergs Orchesterstücken op. 16 in ihrer riesigen Originalbesetzung: Musik, die suggeriert, es käme letztendlich doch nur auf den persönlichen Ausdruck an, ohne Rücksicht auf jegliche klassische Formgebung: ein Versuch, die Möglichkeiten für großes Orchester zu komponieren, in Opposition zur klassisch-romantischen Tradition. Das ist nun wirklich keine Symphonie mehr . . .
Wilhelm Sinkovicz
Zuerst erschienen am 11.05.2024 in Die Presse Kultur Spezial: Salzburger Festspiele