17 Mai 2023

Vier große Liebesgeschichten

Orfeo & Euridice
Romeo & Giulietta
Didon & Énée
The Indian Queen

Vier große Liebesgeschichten und keine davon endet glücklich. Dennoch dürfen diese drei konzertanten und eine szenische Aufführung beglücken.

Orfeo, der seine Euridice aus der Unterwelt heraufholen möchte. Romeo und Giulietta, deren Zuneigung sie bis über den Tod hinaus vereint. Eine Dreiecksgeschichte mitten im fiktiven Konflikt um die Eroberung von Mexiko und eine zum Scheitern verurteilte Liebe zwischen der Karthagerkönigin Didon und dem Helden von Troja, Énée: Mit „Orfeo ed Euridice“, „I Capuleti e i Montecchi“, „The Indian Queen“ und „Les Troyens“ bringen die Salzburger Festspiele heuer in einer szenischen Aufführung und drei Opernkonzerten große Liebesgeschichten, die allesamt zum Scheitern verurteilt sind.

„Ich fühle mich ermutigt, wenn ich von der wunderbaren Wirkung von Orpheus’ Musik lese.“

Christoph Willibald Glucks „Orfeo ed Euridice“ ist dabei eine Übernahme von den Pfingstfestspielen. Der Stoff über den Sänger, der seine verstorbene Frau durch die Kraft der Musik aus der Unterwelt zurückholen möchte, wird in der so genannten Parma-Fassung von 1769 geboten. Cecilia Bartoli verkörpert den Sänger, der ganz auf seine Kunst setzt: „Ich fühle mich ermutigt, wenn ich von der wunderbaren Wirkung von Orpheus’ Musik lese“, sagt Bartoli. „Wie sie die bedrohlichsten Feinde – und sogar den Tod – besänftigen konnte, wie sie Leben auf eine Weise veränderte, die undenkbar gewesen wäre, wenn Orpheus nicht verzweifelt gewagt hätte, die ewigen Weltgesetze herauszufordern. Wir treffen in Orpheus auf einen Helden, der mit seiner Musik den vorgezeichneten Lauf des Schicksals geändert hat – da ist es verständlich, dass er vor allem das Interesse von Komponisten auf sich gezogen hat.“
Zum zweiten Mal – nach „Ariodante“ 2017 – arbeitet Bartoli mit Regisseur Christof Loy zusammen. Für ihn ist Orfeo/Orpheus jemand, der „durch ein extremes emotionales Erlebnis noch mehr aufsteigt in seinem Können als Künstler“. Gerade in dieser Fassung sei die Oper „fast ein durchgehender Monolog des Orpheus, nur kontrastiert von sehr viel Tanzmusik und den Chören. Im Wesentlichen geht es um die Kunstproduktion anlässlich dieses enormen Verlustes der geliebten Person.“ Was ihn für seine Inszenierung „besonders interessiert, ist die Frage, was die Macht von Kunst und Musik ist. Orpheus ist ja an sich geradezu größenwahnsinnig, dass er denkt, er könne die Gesetze von Leben und Tod außer Kraft setzen. Gleichzeitig stellt sich für mich die Frage: Ist es sogar eine Notwendigkeit des Künstlers, zu glauben, mit Hilfe von Kunst die Grenzen von Leben und Tod außer Kraft setzen zu können?“ Auch frage er sich, so Loy, ob die Trauer um die eigene Frau sogar nach und nach in den Hintergrund rücke und die Kunstproduktion wichtiger werde als die Liebe? „Dieses Spannungsfeld ist für Orpheus selbst eigentlich unauflösbar.“

Produktive Einsamkeit. Auf diese Art werde, so Loy weiter, das Stück über den Sänger, der durch die Kraft seiner Musik seine geliebte Gattin aus der Unterwelt retten möchte, zu einer „großen Selbstbefragung. Denn als er seiner Frau wieder gegenübersteht, kommt er damit ja auch nicht zurecht.“ Der Protagonist sei „in seiner notwendigen Form von Egomanie als Künstler so weit gegangen, dass die Begegnung mit einem wirklichen Menschen – ausgerechnet mit der Person, die er sich so sehr zurückgesehnt hat – zum Scheitern verurteilt ist. Orpheus scheitert eigentlich am wirklichen Leben, er ist dem Leben abhandengekommen, ohne dass er es merkt, und kommt nicht mehr auf den Boden zurück.“ Es sei bezeichnend, findet Loy, dass Orfeo just „in dem Moment, als er wieder mit Euridice zusammen ist, geradezu verstummt. Gerade da hat er keine Möglichkeiten mehr, sich zu äußern, wie er es getan hat, als er unter den Schmerzen litt.“ Seine berühmte Arie „Che farò senza Euridice?“ „kann er erst singen, als er sie wieder verloren hat, sie tot in seinen Armen liegt. Er ist dann in seinem vorherigen Zustand angekommen, die Einsamkeit lässt ihn als Künstler wieder produktiver sein.“ Seine Interpretation gehe, beschreibt Loy, durch den Fokus auf Orfeo dahin, „dass es ein nochmaliges Erwecken der Euridice eigentlich nicht geben darf. Dass man wieder zurückkehrt zu einer Normalität, ist eigentlich nicht konsequent. Daher werde ich es offenlassen, was dann der Weg für Orfeo ist.“ Er setze, so Loy, die Handlung in einen „verhältnismäßig abstrakten Raum, fast wie ein Konzertsaal, der danach verlangt, dass hier Kunst und Musik stattfinden“. Das Bühnenbild stammt von Johannes Leiacker.
Während der antike Mythos auch für viele andere Komponisten Vorbild für musiktheatralische Werke war – von Monteverdi bis Henze, von Offenbach bis Trojahn –, hebt sich Gluck dadurch ab, dass er sich ganz besonders auf eine einzelne Figur konzentriert. Er tat dies schon in seiner Wiener Fassung von 1762 und noch mehr in jener, die er 1769 zur Feier der Hochzeit des spanischen Infanten, Herzogs Ferdinand von Bourbon-Parma, mit der österreichischen Erzherzogin Maria Amalia schuf.
Für die Parma-Fassung hat Gluck anlässlich der Besetzung mit dem damals berühmten Soprankastraten Giuseppe Milico die ursprüngliche Altpartie für die Sopranlage transponiert: „Das liegt Cecilia Bartoli sehr. Das Reizvolle ist, dass die Figur durch diese Lage noch gefährdeter, androgyner wirkt und noch mehr als grenzgängerische Figur gekennzeichnet ist, als man es durch die Altstimmen gewohnt ist“, beschreibt Loy.
Die Aufführung von Christoph Willibald Glucks Oper hat in Salzburg eine lange Tradition, Bruno Walter brachte sie bereits 1931 hier auf die Bühne und holte für die szenische Aktion die legendäre Margarete Wallmann mit ihrem Tanzensemble nach Salzburg. Christof Loy bringt für seine Inszenierung nun ebenfalls seine eigenen Tänzerinnen und Tänzer mit. Unter der musikalischen Leitung von Dirigent Gianluca Capuano ist Mélissa Petit neben Cecilia Bartoli zu sehen, sie gibt Euridice. Amore wird von Madison Nonoa verkörpert. Es spielen die Musiciens du Prince – Monaco.

"Ich gestehe, dass ich unvermutet von Rührung gepackt wurde und begeistert applaudierte.“

Inniger Zusammenklang. Liebe, die bis über den Tod hinausgeht, steht auch im Zentrum der „Tragedia lirica“ „I Capuleti e i Montecchi“ von Vincenzo Bellini, die als konzertante Aufführung in die Felsenreitschule kommt. Wer hier Shakespeare als Basis vermutet, geht ein wenig fehl: Als Bellini die Oper 1830 innerhalb weniger Wochen für das Teatro La Fenice in Venedig komponierte, diente ihm das Libretto von Felice Romani als Basis. Dieser wiederum hatte für sein Libretto zu Nicola Vaccais Oper „Giulietta e Romeo“ Luigi Scevolas gleichnamige Tragödie und anderes als Grundlage genommen. Romani kannte bestimmt auch Matteo Bandellos Novelle „La sfortunata morte di due infelicissimi amanti“, die ihrerseits Shakespeare als Vorlage diente.
Bellini hat in seiner Belcanto-Variante der wohl berühmtesten Liebestragödie der Literaturgeschichte die Rolle des Romeo einem Mezzosopran zugedacht, wodurch die beiden Frauenstimmen einen innigen Zusammenklang erreichen können. Wie einst schon Hector Berlioz schrieb: „Diese beiden Stimmen, die zusammen wie eine einzige erklingen und vollkommene Vereinigung symbolisieren, geben der Melodie eine außerordentliche Schwungkraft. Ich gestehe, dass ich unvermutet von Rührung gepackt wurde und begeistert applaudierte.“ Gleichzeitig bringen die beiden Frauenstimmen in der schmerzlich schönen Musik der Oper einen starken Kontrast zu der von Männerstimmen dominierten kalten Gesellschaft, an der die Liebenden zerbrechen.
In Salzburg werden es die Stimmen von Elsa Dreisig als Giulietta und Aigul Akhmetshina als Romeo sein, die teils förmlich verschmelzen. Michele Pertusi singt Capellio, Pene Pati Tebaldo, Roberto Tagliavini Lorenzo. Bei der konzertanten Aufführung steht Marco Armiliato am Pult des Mozarteumorchesters Salzburg, der Philharmonia Chor Wien wird von Walter Zeh einstudiert.

Dem von ihr Verehrten bedeutet Macht mehr als ihre Zuneigung.

Verliebt in den Feind. Von unerfüllter Liebe beherrscht ist auch die Oper „The Indian Queen“ von Henry Purcell. Dabei scheitern in der ursprünglichen Fassung nach dem Schauspiel von John Dryden und Robert Howard die Liebenden am fiktiven Konflikt zwischen den Azteken und den Inkas. Die Tochter des Inka-Herrschers wird im Original nicht nur von dem Krieger Montezuma verehrt, sondern auch von Acacis. In Salzburg wird man jedoch eine konzertante Fassung erleben, die Regisseur Peter Sellars mit einem neuen Handlungsrahmen erstellt hat. Er hat Rosario Aguilars Roman „La niña blanca y los pájaros sin pies“ als Basis genommen, um die Geschichte der spanischen Eroberung Mittelamerikas aus der Perspektive von drei Frauen zu erzählen. Eine davon ist Tochter eines Maya-Häuptlings, die einem Eroberer als Geliebte gegeben wird. Dies geschah mit dem Hintergedanken, dass sie in dieser Position für ihr Volk spionieren könnte. Doch sie verliebt sich in den eigentlichen Feind. Ihre Hoffnung, er würde sich zugunsten der Liebe zu ihr von seiner Eroberungswut abkehren, stellt sich als vergeblich heraus. Dem von ihr Verehrten bedeutet Macht mehr als ihre Zuneigung. Die ursprünglich 50-minütige Originalpartitur von „The Indian Queen“, die Purcell am Gipfel seiner Laufbahn als Bühnenkomponist schuf, wurde von Sellars und dem musikalischen Leiter Teodor Currentzis um expressive Solo-Lieder und Arien des Komponisten ergänzt, auch eine Auswahl seiner geistlichen Chorstücke wurden in den Abend aufgenommen. Unter den Solisten sind Jeanine De Bique, Jarrett Ott, Julian Prégardien und Rachel Redmond.

Eine Geistererscheinung erinnert ihn an seine Bestimmung.

Um Pflichtgefühl, das stärker ist als Liebe, dreht sich auch „Les Troyens“ von Hector Berlioz, heuer als dritte konzertante Oper bei den Salzburger Festspielen zu erleben. Énée, der aus Troja geflohen ist und in Italien einen neuen Staat errichten soll, verliebt sich auf der Reise in Didon, die Königin von Karthago. Doch gelingt es ihr nicht, ihn zu halten, auch wenn die Zuneigung in dem innigen Duett „Nuit d’ivresse et d’extase infinie“ gipfelt. Eine Geistererscheinung erinnert ihn an seine Bestimmung. Die „Grand Opéra“ basiert auf dem von Berlioz selbst geschriebenen Libretto, das er weitgehend frei nach Vergils „Aeneis“ verfasste. In seinem Umfang und seinem innovativen Vorgehen entstand ein Monumentalwerk von antikepischem Umfang, das eine Vielzahl an Sängerinnen, Sängern, Chor- und Orchestermitgliedern benötigt. Zu Lebzeiten des Komponisten wurde das 1856 bis 1858 geschaffene Werk nie gespielt, bis ins 20. Jahrhunderte dauerte es, bis es als Gesamtaufführung präsentiert wurde. Auch wenn das Schicksal des Trojaners Énée die Oper zusammenhält, sind die Seherin Cassandre und die Karthagerkönigin Didon dominante Figuren. In Salzburg wird Paula Murrihy Didon singen, Alice Coote Cassandra. Michael Spyres verkörpert Énée. John Eliot Gardiner hat die musikalische Leitung über, er steht am Pult des Orchestre Révolutionnaire et Romantique.

So sehr die vier Opern also innige, ergreifende Musik gemeinsam haben, so sehr bleibt auch allen Liebenden das beglückende Ende verwehrt.

Zuerst erschienen am 20.05.2023 in Die Presse Kultur Spezial: Salzburger Festspiele

Theresa Steininger