30 Mrz 2022

Reigen
nach Arthur Schnitzler

In seinem skandalisierten Bühnenstück Reigen thematisierte Arthur Schnitzler Intimität und Begehren quer durch die Gesellschaftsschichten um 1900. Für den Festspielsommer 2022 sind zehn renommierte Autor*innen eingeladen, das Original zu überschreiben und ein heutiges Kaleidoskop der Liebesweisen zu schaffen.

Die Leseprobe der neusten Inszenierung von Yana Ross, einer Koproduktion der Salzburger Festspiele und des Schauspielhaus Zürich, beginnt unter anderem damit, dass wir uns die Frage stellen: Wer oder was ist der Soldat unserer Zeit? … Wir lesen Reigen von Arthur Schnitzler – oder vielmehr die Überschreibung der ersten neun Szenen, denn die letzte, zehnte, ist noch völlig offen.

Arthur Schnitzler sezierte im Reigen die Masken einer Gesellschaft um 1900, am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Der Autor und Arzt, der lange ein Doppelleben als Mediziner und Künstler führte, untersuchte mit seiner literarischen Psychologie die Anatomie der Seele. Und genau das tut auch Yana Ross in ihrer Regiearbeit, wobei sie den Stoff diesmal durch zehn zeitgenössische Autor*innen überschreiben lässt: und zwar von Lydia Haider, Sofi Oksanen, Leïla Slimani, Sharon Dodua Otoo, Leif Randt, Mikhail Durnenkov, Hengameh Yaghoobifarah, Kata Wéber, Jonas Hassen Khemiri und Lukas Bärfuss.

Im Reigen treffen zehn prototypische Figuren der Wiener Gesellschaft aufeinander, die – durch Klassen, Alter und Geschlecht getrennt – in der öffentlich legitimierten Ordnung einer Gesellschaft üblicherweise nicht zusammenfinden konnten. Damit brach Schnitzler eine Menge gesellschaftlicher Tabus. Nach der ersten vollständigen Aufführung der zehn Dialoge am 23. Dezember1920 in Berlin kam es zum öffentlichen Aufruhr und in der Folge zu den sogenannten Reigen-Prozessen. In diesen Prozessen wurden die einzelnen Szenen sexueller Begegnungen über Status und Standesgrenzen hinweg beleuchtet, um juristisch darüber zu befinden, ob das Theaterstück selbst oder aber auch das Spiel der Schauspieler*innen unzüchtiges Verhalten propagiere. Begleitet waren die Prozesse von antisemitischen Krawallen und Äußerungen, die bereits den Boden für die nächste Katastrophe, den Zweiten Weltkrieg und die Shoa, bereiteten.

Das Fin de Siècle, in dem das Bühnenstück entstand, wird gerne auch als Zeitalter der Dekoration, des Ornaments apostrophiert, in dem der Illusionismus und Ästhetizismus blühten und der Betrachtung des menschlichen Unbewussten, des homo psychologicus in all seinen Maskierungen, besondere Bedeutung zukam. Auch die zehn aktuellen Überschreibungen nehmen uns auf eine Reise ins Unbewusste mit, sind unserem heutigen Zeitgeist auf der Spur und ergründen, welche Masken es zu sezieren gilt. Yana Ross beleuchtet die Kollateralschäden einer normativen Gesellschaft, die sich – unsichtbar für die Öffentlichkeit – in den zwischenmenschlichen Beziehungen und Familien manifestieren. Die Protagonist*innen dieser Reigen-Überschreibung scheinen dabei den Boden unterihren Füßen zu verlieren. Nur wenige Tage, nachdem wir uns in der ersten Leseprobe gefragt hatten, wer oder was der Soldat unserer Zeit sei, greift Russland die Ukraine an. Die Fragen nach Militarisierung, nach den Soldaten unserer Zeit, sie könnten gravierender und aktueller nicht sein. Eine Katastrophe wird real, es herrscht wieder Krieg in Europa.

Nach Arthur Schnitzler REIGEN
Neufassung der zehn Dialoge von Lydia Haider, Sofi Oksanen, Leïla Slimani, Sharon Dodua Otoo, Leif Randt, Mikhail Durnenkov, Hengameh Yaghoobifarah, Kata Wéber, Jonas Hassen Khemiri und
Lukas Bärfuss

Uraufführung
SZENE Salzburg
28., 31. Juli, 3., 5., 6., 8., 9., 11. August

Koproduktion mit dem Schauspielhaus Zürich

Autorin: Laura Paetau
Text zuerst erschienen in Festspieljournal 2022, Salzburger Nachrichten