„Die Welt wird nie gut“
"Um das Publikum kümmere ich mich nie"
Der belgische Regisseur Ivo van Hove inszeniert das Stück Ingolstadt von Marieluise Fleißer, einer Schriftstellerin, die Jahrzehnte lang nicht die Beachtung erfuhr, die ihr gebührt. Dabei ist ihr Stil unverwechselbar, sagt van Hove: „Sie beschreibt eiskalt – mit warmem Herzen – das Schlechte im Menschen.“
Wann und wie sind Sie auf die bayrische Schriftstellerin Marieluise Fleißer aufmerksam geworden?
Ivo van Hove: Ich habe in Brüssel Regie studiert, der Unterricht dort war sehr gut. Die beiden Stücke von Marlieluise Fleißer „Fegefeuer in Ingolstadt“ und „Pioniere in Ingolstadt“ habe ich seit meinem Studium bei mir im Bücherregal stehen. Als mich Martin Kušej eingeladen hat, etwas für das Burgtheater und die Salzburger Festspiele zu machen, hatte ich sofort den Gedanken, ein Stück von Fleißer zu inszenieren.
Sie hatten die Idee, aus ihren beiden Stücken „Fegefeuer in Ingolstadt“ und „Pioniere in Ingolstadt“ ein Stück – „Ingolstadt“ – zu machen. Warum?
Fleißer hat, bis auf ein paar Jahre in Berlin, immer in Ingolstadt gelebt. Diese Stadt ist nicht irgendeine Stadt für sie, sie hat eine große Bedeutung. Ingolstadt ist nicht nur eine Provinzstadt, sie war im Mittelalter auch von einer Wehrmauer umgeben und abgeschottet. Ich habe die Hoffnung, dass „Ingolstadt“ quasi eine Metapher für alles Schlechte im Menschen wird. In dem ganzen Stück gibt es nur eine Szene, wo zwei Leute in einem Moment von Offenheit zusammen sind, und zwar ohne etwas im Schilde zu führen, ohne Frustration. Alle anderen Beziehungen sind immer kompliziert, gewalttätig oder sadistisch. Zwei Jahre vor ihrem Tod sagte Marieluise Fleißer in einem Interview: „Die Welt wird nie gut.“ Das sagt alles, am Ende ihres Lebens dachte sie so. Das versuche ich in meiner Inszenierung zu zeigen. Sie könnten mich jetzt fragen, warum ich das machen will.
Warum wollen Sie das machen?
Das kann ich Ihnen sagen: Es ist lange her, aber ich kann mich immer noch gut daran erinnern, da gab es in Wien ein Theatertreffen. Damals sah ich „Iwanow“ von Anton Tschechow, Peter Zadek hatte Regie geführt. Nach der Vorstellung gab es ein Publikumsgespräch, und viele Zuschauer fragten Zadek: „Warum inszenieren Sie so ein Stück? Darin gibt es nur negative Figuren, alle sind schlecht.“ Er antwortete: „Vielleicht kann man sich beim Rausgehen denken: Ich bin nicht Iwanow.“ Und so ist es auch bei „Ingolstadt“. In dem Stück wird nicht die Sonnenseite der Menschheit gezeigt. Alles ist dunkel.
Gibt es gar keine Sonnenstrahlen, keine Momente der Hoffnung?
Einige wenige Momente gibt es. Sie sind nur kurz. Ich nenne sie „Spuren der Hoffnung“. Man ahnt, es ist möglich, glücklich zu sein, es ist möglich, die Sonne zu sehen. Aber es gelingt letztlich nicht. Vergangenes Jahr habe ich „Age of Rage“ inszeniert, das Stück basiert auf den griechischen Tragödien, dem Trojanischen Krieg. Der Titel „Zeitalter des Zorns“ sagt alles aus, es geht ausschließlich um Krieg.
Warum erwähnen Sie das in diesem Zusammenhang?
Weil ich sagen will, dass ich es für wichtig halte, in diesen Zeiten manchmal das Schwarze zu zeigen, damit wir nachher das Licht sehen können.
Und vielleicht, damit wir uns fragen, wie es so schwarz werden konnte?
Ja, was passiert gerade? Wie kann es sein, dass der Mensch andere Menschen tötet, um es selbst besser zu haben. Das ist völlig irrational! Das sehen wir jetzt gerade in der Ukraine. Putin will dieses Land haben, aber gleichzeitig vernichtet er es auch. Viele Städte sind völlig kaputt, also das Land interessiert ihn nicht. Es geht nur um das Haben. Auch in dem Stück „Ingolstadt“ geht es darum, wenngleich anderes wichtiger ist.
Was ist wichtiger?
In dieser Provinzstadt gibt es zwei Machtstrukturen: erstens die der Religion beziehungsweise der Kirche. Sie geben vor, wie man leben muss. Hält man sich nicht an die Gebote, wird man ausgestoßen – ausnahmslos. Zweitens, die Machtstruktur der Armee, in der nur die Hierarchie zählt. Der Feldwebel sagt an einer Stelle: „Der Druck geht immer nach unten.“ Das heißt, die ganz unten in der Hierarchiepyramide, die müssen leiden. Schrecklich. Ich habe noch nie ein Stück gelesen, wo das so deutlich wird.
Wie würden Sie Fleißers Stil beschreiben?
Fleißer beschreibt eiskalt, aber mit einem warmen Herz – manchmal jedenfalls. Sie hat immer gesagt, dass sie nie einen Plan hatte, was sie schreiben möchte, sondern ihre Stücke aus dem Dunklen kommen. Diese Machtstrukturen waren also tief in ihrer DNA, sie hatte sie internalisiert. Und ihre Sprache ist einfach kompliziert, um Thomas Bernhard zu zitieren. Und ich möchte, dass wir diese primitive Geschichte hoffentlich auf eine primitive Art erzählen.
Das heißt?
Nicht intellektualisiert. Fleißers Figuren sind normale, junge Menschen, die noch nie ein Buch gelesen haben. Das möchte ich zeigen.
Hatten Sie gleich bei der ersten Lektüre der beiden Stücke das Gefühl,
Sie würden Marieluise Fleißer begreifen?
Nein, das war unglaublich schwierig. Es hat mich Woche um Woche gekostet und mich sehr gefordert. Ich hatte Zweifel, ihre Stücke machen zu können, weil ich sie zuerst nicht verstand. Dabei sind ihre Sätze kurz, sie versucht erst gar nicht, schön zu formulieren. Sie schreibt so, wie die Leute sprechen. Das ist meisterhaft. Übrigens ist es auch für die Schauspieler nicht so leicht, diese Sprache sofort zu begreifen. Darum sage ich zu ihnen: „Alles so einfach wie möglich, denn auf einer emotionalen Ebene versteht man Fleißer immer.“
Was wussten Sie über Fleißers Leben, bevor Sie ihre Texte lasen?
Nicht viel. Ich wusste, dass sie die beiden Stücke in den 1920er-Jahren geschrieben hat, und dass sie eine Beziehung mit Bertolt Brecht hatte.
Fleißer wird immer in einem Atemzug mit Bertolt Brecht erwähnt. Ob man ihr damit gerecht wird?
Brecht und ihre Beziehung zu ihm haben mich überhaupt nicht interessiert. Für mich ist es nicht wichtig, viel über den Autor oder die Autorin eines Werkes zu wissen. Das Werk muss sprechen.
Und was sagen Ihnen die Stücke über die Autorin?
Ich sehe, dass sie eine Frau war, die verwegen genug war, den Monstern in uns ins Gesicht zu sehen. Sie hat nicht versucht, etwas zu beschönigen, sondern wollte realistisch sein. Nur dass kein Missverständnis entsteht: Wenn ich realistisch sage, meine ich nicht naturalistisch. Im Gegenteil. Fleißer schafft eine Atmosphäre, die für mich etwas ganz Unheimliches hat. Das Unheimliche ist auch ein Aspekt, der mich sehr an diesem Stück interessiert.
Fleißer wurde einmal gefragt, wer ihre literarischen Vorbilder gewesen seien. Nur Bertolt Brecht und Lion Feuchtwanger, sagte sie. Mit anderen Autoren habe sie sich nicht so sehr befasst.
Das spürt man auch. Man liest den Text einer Frau, die schreibt, wie sie fühlt, wie sie die Welt sieht. Ich finde es fabelhaft, dass sie das konnte, und dass ihre Stücke noch heute sehr viel bedeuten. Ob Vergewaltigung, Abtreibung, Suizid, all diese schrecklichen Sachen beschreibt sie, aber nicht psychologisch, sondern fast wie einen sozialen Zustand.
Sie meinen, psychologische Ansätze braucht man in Fleißers Werk nicht zu suchen?
Nein, schon bei der ersten Probe habe ich zu den Schauspielern gesagt: „Psychologie wird uns nicht helfen. Darum geht es nicht, sondern um die Zustände, in denen diese jungen Leute leben.“ Man wird in Salzburg und im Herbst im Burgtheater übrigens ein Ensemble sehen, das man noch nicht kennt. Lauter neue, junge Leute – und das ist Absicht, denn ihnen gehört die Zukunft. Nur in dem Stück haben sie keine, weil die Älteren sie ihnen verwehren. Aber vor allem die Frauen versuchen, dagegen anzukämpfen. Da gibt es also eine Kraft. Und Kraft ist Zukunft.
Sie sind ein Regisseur, der bei den Proben auf bestimmte Rahmenbedingungen Wert legt.
Ja, mir ist es am liebsten, wenn von der ersten Probe an alles da ist, das Bühnenbild, die Beleuchtung, die Musik, die Kostüme. Ich mach das immer und überall so auf der Welt, und man macht es überall auf der Welt für mich. Das ist meine Art zu arbeiten. Wenn man mit jemandem zusammenleben will, entscheidet man sich auch für eine Wohnung oder ein Haus. Das Haus ist wichtig dafür, wie man sich zueinander verhält. So ist es auch bei einer Inszenierung. Es anders zu machen, empfände ich als artifiziell, als nicht organisch.
Sie haben also genaue Vorstellungen. Wie viel Spielraum gewähren Sie den Schauspielern?
Es ändert sich während der Proben noch unglaublich viel. Auf der Bühne und mit den Schauspielern fängt die Inspiration erst an. Ich würde Schauspielern nie sagen: „Du musst von hinten rechts auf die Bühne kommen oder von vorne links.“ Ein Regisseur muss zum Ensemble sagen: „Heute machen wir eine Reise. Wir fahren von Wien nach Helsinki. Das steht fest.“ Aber wie wir ans Ziel kommen und wie schnell, ist völlig offen, es gibt viele verschiedene Wege.
Genießen Sie die Proben?
Oh ja, sehr. Und ich bin ein Regisseur, der auch die Vorbereitung liebt.
Schlaflosen Nächte kennen Sie nicht?
Nein, nie wegen des Theaters. Vielleicht, weil ich mir für jedes Stück sehr viel Zeit nehme. Dass ich „Ingolstadt“ machen werde, weiß ich seit fast zwei Jahren. Es ist wie mit Rotwein, er wird besser, wenn man ein paar Jahre wartet, bevor man ihn trinkt. Und ich will in mir fühlen, warum ich ein Stück mache. Das braucht Zeit. Ich hasse Regisseure, die während der Proben auf einmal sagen: „Eigentlich ist das Stück gar nicht gut.“ Glauben Sie mir, davon gibt es einige.
Das ist blamabel.
Ja, darum lieber das Stück zehnmal oder zumindest zweimal lesen, bevor man anfängt.
Sie sagen, Sie müssen fühlen, warum Sie ein Stück machen. Muss man eine Rechtfertigung haben, um ein Stück zu spielen?
Ja! Es ist zu wenig, wenn ein Regisseur sagt: „Ah, ich liebe dieses Stück.“ Das bedeutet nämlich nichts. Als Regisseur muss man kommunizieren können, warum man ein Werk auf die Bühne bringt. Die Schauspieler haben das Stück nicht ausgesucht, ich habe es ausgewählt. Darum ist es an mir, deutlich zu machen, warum. Nur wenn sie es verstehen, wird viel von ihnen kommen, und nur dann werden wir gemeinsam in Helsinki ankommen.
Im Idealfall mit dem Publikum.
Um das Publikum kümmere ich mich nie, nur in den letzten drei, vier Tagen vor der Premiere. Da setze ich mich in den Zuschauerraum, um zu überprüfen, ob ich alles verstehen, sehen und fühlen kann. Aber sonst macht es keinen Sinn, ans Publikum zu denken, denn es ist jeden Tag ein anderes. Und eines ist sicher: Wenn man dem Publikum gefallen will, gefällt das dem Publikum nicht.
von Judith Hecht
Zuerst erschienen am 25.07.2022 in Die Presse Kultur Spezial: Salzburger Festspiele