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„Die Berührung mit einem Engel ist lebensgefährlich.“

Marieluise Fleißer (1901–1974) ist eine einzigartige Erscheinung in der deutschsprachigen Dramatik der letzten 100 Jahre. Sie wurde von Lion Feuchtwanger gefördert, von Bertolt Brecht verehrt (und fast zerstört), Ödön von Horváth lernte von ihr, und eine ganze Generation deutscher Nachkriegsdramatiker stand unter ihrem Einfluss – Franz Xaver Kroetz, Rainer Werner Fassbinder und Martin Sperr ließen sich ihre „Söhne“ nennen. Eine Ausnahme-Schriftstellerin also, die in einer solchen Aufzählung nicht zufällig von lauter bekannten Männern „umstellt“ ist und deren Werke heute nicht mehr allzu häufig auf die Spielpläne der Theater finden. Umso bemerkenswerter, dass sich mit Ivo van Hove nun einer der gefragtesten Regisseure des europäischen Theaters in einem groß angelegten Projekt ihres dramatischen Schaffens annimmt.
In ihren beiden bekanntesten Stücken, Fegefeuer in Ingolstadt und Pioniere in Ingolstadt (sowie in mehreren Erzählungen und dem Roman Eine Zierde für den Verein), schuf Marieluise Fleißer seit Mitte der 1920er-Jahre nicht so sehr ein Porträt ihrer Heimatstadt als vielmehr einen Kosmos katholischer Provinz aus der Sicht einer jungen, „verlorenen“ Nachkriegsgeneration.
Es sind die heißesten Tage eines langen Sommers in der bedrückenden Enge der Kleinstadt, Hundstage des Stillstands und der Rastlosigkeit, voll dumpf brütender Energie, die sich ihre Ventile mit grausamer Gesetzmäßigkeit an den schwächsten Stellen sucht. „Abwechslung“ bietet einzig die Anwesenheit eines Bataillons von Pionieren, die kurzzeitig in Ingolstadt stationiert sind, um eine Brücke über die Donau zu schlagen. Roelle, vor kurzem von der Schule verwiesen, ist ein Außenseiter, der seinen Platz in der Welt sucht, indem er sich ihr entgegenstellt – ein selbsternannter Auserwählter und Heiliger von eigenen Gnaden, zu dem „die Engel kommen“. Mit seinem Wissen um die ungewollte Schwangerschaft der Klosterschülerin Olga und ihre vergeblichen Versuche, eine Abtreibung vornehmen zu lassen, hofft er, ihre Nähe erpressen zu können. Für ihre rivalisierende Schwester Clementine, die seit dem Tod ihrer Mutter deren Stelle im Haushalt zu vertreten hat und Roelle anhimmelt, hat er dagegen keine Augen. Peps, der Vater des ungewollten Kindes, jagt Roelle durch die Stadt und von einer unseligen Situation in die nächste.
Ein weiteres Opfer dieser rohen Männlichkeit ist der Vatersohn Fabian, der sich in das Dienstmädchen Berta verliebt hat, die ihrerseits von dem Pionier Korl fasziniert ist, dem sie die kaltschnäuzigen Beteuerungen seiner Gleichgültigkeit nicht glauben mag. Ihre Freundin Alma versucht, Unabhängigkeit zu erlangen, indem sie auf eigene Rechnung ihren Körper verkauft. Der Feldwebel, unter dessen Kommando die Pioniere stehen, wird Opfer eines Anschlags seiner Untergebenen und ertrinkt in der Donau.
Die Gewalt in Marieluise Fleißers Ingolstadt trägt die Masken der Religion, der Familie, der militärischen Ordnung, der Sexualität. Sie findet ihren Ausdruck in rituellen Formen, wie der Steinigung, der Waschung, des gemeinschaftlichen Ertränkens etc. Ihr Medium aber ist die Sprache. Die Sprache der Fleißer, ihre Knappheit, Expressivität und unbarmherzige Präzision ist es, aus der sich die Einzigartigkeit ihres dramatischen Werks begründet. Die Sprache enthält die Ordnung der Welt, die Ingolstadt heißt; in der Sprache sind alle möglichen Auswege aus ihr enthalten und versperrt.

Sebastian Huber

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