25 Jul 2023

Verdis Shakespeare: Unerlaubt verwegen und mitreißend wahrhaftig

Gerald Finley

„Ein einziger Blick in die internationale Politik genügt,
und wir erkennen Falstaffs moderne Vettern.“

Vom finsteren Politdrama zur altersweisen Komödie: „Macbeth“ und „Falstaff “ bilden A und O von Giuseppe Verdis Shakespeare-Vertonungen.

Shakespeare! „Shakespeare ist einer meiner liebsten Dichter, dessen Werke ich seit meiner frühen Jugend in Händen gehalten habe und den ich fortwährend lese und wieder lese“, schwärmte Giuseppe Verdi 1865. Im 19. Jahrhundert ging es Librettisten wie Komponisten bei der Suche nach Vorlagen für ihre Opern durchaus nicht um große Namen der Weltliteratur und schon gar nicht um eine möglichst originalgetreue Umsetzung ihrer Werke auf der Musiktheaterbühne. Würde man etwa in Gioachino Rossinis „Otello“ (1816) die Protagonisten umbenennen, wäre Shakespeares Drama nur schwer darin wiederzuerkennen – auch deshalb, weil das Werk gar nicht auf dem Original fußt, sondern auf einer freien Bearbeitung fremder Hand. Für die italienische Oper waren einfach Situationen und Handlungselemente wichtig, die den Gepflogenheiten des Genres und seinen musikalischen Binnenformen leicht und wirkungsvoll anzupassen waren. Dabei war egal, ob nun dieser oder jener literarische Steinbruch genützt wurde. Erst Verdi sollte die Vorlagen respektieren, ihre dramatischen Intentionen nicht als Hemmschuh betrachten, sondern als Vorteil – und gerade im Bruch der Konventionen eine Weiterentwicklung der Gattung bewirken.

Auf Italienisch, Französisch, Deutsch. Bei „Macbeth“, seiner zehnten Oper und zugleich ersten Shakespeare-Vertonung, griff er auf eine in Italien so gut wie unbekannte Tragödie zurück und warf zugleich einige der zuvor als unabdingbar geltenden Regeln über Bord: Verdis „Macbeth“ kommt ohne Liebeshandlung aus und teilt die Titelrolle auch einem Bariton zu, nicht dem üblichen Tenor. „Diese Tragödie ist eine der großartigsten menschlichen Schöpfungen!“, schärfte der Komponist seinem Librettisten Francesco Maria Piave ein, dem er einen vollständigen Prosaentwurf aus eigener Hand zugesandt hatte: „Wenn wir schon keine große Sache daraus machen können, lass uns wenigstens versuchen, eine Sache jenseits des Gewöhnlichen zu machen . . . Kürze und Erhabenheit!“ Piaves Verse trafen dann aber so wenig Verdis Geschmack, dass dieser den Dichter und Schiller-Übersetzer Andrea Maffei um Hilfe bat. Das Publikum reagierte bei der Florentiner Uraufführung 1847 enthusiastisch, die Kritik etwas zurückhaltender. „Macbeth“ wurde zwar zunächst häufig aufgeführt, aber dann durch den Dreifacherfolg von „Rigoletto“, „Il trovatore“ und „La traviata“ Anfang der 1850er-Jahre klar überflügelt.
Als das Pariser Théâtre-Lyrique den „Macbeth“ dann 1864 auf Französisch herausbringen wollte, reichte Verdi nicht nur die in Paris unerlässliche Ballettmusik nach, sondern komponierte auch jene Passagen neu, „die entweder schwach sind oder denen es an Charakter fehlt, was noch schlimmer ist“. Ein Dauerbrenner wurde auch die Überarbeitung vorerst nicht; selbst in Verdis Heimat war die ins Italienische rückübersetzte Version zwischen 1890 und 1931 so gut wie vergessen. Wiederentdeckt wurde sie erst im Zuge der deutschsprachigen Verdi-Renaissance, maßgeblich vorangetrieben vom Dirigenten Georg Göhler sowie von Franz Werfel als Übersetzer und Romancier („Verdi. Roman der Oper“, 1924). In seinem Essay „Ein Bildnis Giuseppe Verdis“ schwärmte Werfel: „Der Stoff war unerlaubt verwegen im Hinblick auf Zeit und Welt, in der das Werk aufgeführt wurde. Schottischer Nebel, Hexen, Gespenster, Mord, Finsternis und nicht die kleinste Liebesgeschichte, um eine schwingende Melodie anzubringen. Und der Komponist dieses schauervollen ‚Thrillers‘, ein Sohn der italienischen Sonne!
Heute wissen wir, dass die Lösung, die Verdi für den Stoff gefunden hat, ebenso kühn war wie dieser Stoff selbst. ‚Macbeth‘ ist in der Geschichte der Oper um nichts weniger neu und aufrührerisch als jener ‚Tannhäuser‘. Mit 33 Jahren macht Verdi an der Hand Shakespeares den Sprung vom alten Melodram zum modernen Musikdrama, ohne in einem einzigen Takt seinen Stil und seine Überzeugung zu verleugnen.“

Tragödie und Komödie. In der Tat sollt Shakespeare für Verdi eine Art Leitstern bleiben. Ein Leitstern, an dem er sich in einem besonderen Fall allerdings nicht verbrennen wollte: Schon 1843 hatte es erste Anläufe zu einem „Re Lear“ gegeben, die zehn Jahre später erneuert wurden – ohne Ergebnis. Ja sogar noch in Verdis letzten Lebensjahren versuchte Arrigo Boito, den „Gran Vegliardo“, den großen Alten der italienischen Musik, mit „Lear“ neuerlich zu ködern.
Boito, selbst Komponist von Rang und als Librettist dem Freund ein unermüdlicher, hochbegabter, ja der einzige ebenbürtige Mitstreiter, hatte nicht nur die Neufassung des „Simon Boccanegra“ ermöglicht, eines anderen Schmerzenskindes. Sondern ihm war sodann auch jene zweite große Shakespeare-Vertonung Verdis zu verdanken gewesen, die dem Komponisten nach langer Pause 1887 in Mailand einen späten Triumph bescherte: „Otello“. Shakespeares Eifersuchtstragödie als perfekte italienische Oper – was sollte danach noch kommen?
Doch Boito ließ nicht locker und flüsterte dem fast 76-Jährigen wie ein allerdings wohlmeinender Jago ein: „Das Schreiben einer komischen Oper würde Sie, glaube ich, nicht ermüden … Der Scherz und das Lachen der Komödie erheitern Körper und Geist … Es gibt nur einen Weg, besser als mit dem ‚Otello‘ zu enden, und das ist der, siegreich mit dem ‚Falstaff‘ zu enden. Nachdem Sie alle Schmerzensrufe und Klagen des menschlichen Herzens haben ertönen lassen, mit einem mächtigen Ausbruch der Heiterkeit enden! Das wird in höchstes Erstaunen versetzen!“
Und so sollte es auch kommen: „Falstaff“, 1893 an der Mailänder Scala uraufgeführt, basiert auf Shakespeares „Lustigen Weibern von Windsor“, angereichert um Szenen aus „Heinrich IV.“. Die nach „Otello“ nicht minder frenetisch bejubelte Novität stellt den hier wie dort auftretenden, feisten englischen Ritter Falstaff ins Zentrum, den Boito literarisch überaus kunstvoll und klug als Relikt einer schon vergangenen Epoche porträtiert. Zusammen mit Verdis mosaikartiger, in perfektem Timing schillernder Musik ergibt das eine altersweise Komödie über einen alles andere als altersweisen, sondern unverbesserlichen Schwerenöter, der freilich gerade durch seine Torheiten jung geblieben ist: ein neuerlicher Geniestreich des Duos Boito/Verdi und ein von leiser Wehmut durchzogenes Glanzstück in den Kronjuwelen nicht nur des italienischen Repertoires. Oder, in den Worten des Verdi-Biographen Jacques Bourgeois, der ein anderes großes Werk ins Spiel bringt, das in diesem Festspielsommer neu interpretiert wird: „Denn wie die im Zeitalter der Romantik blühende Ausdrucksoper aus ‚Figaros Hochzeit‘, so ist das Musiktheater in unserem heutigen Sinn aus ‚Falstaff‘ hervorgegangen … ‚Falstaff‘ ist die erste moderne Oper.“

Menschliche Schwächen hier wie dort. „‚Falstaff‘ ist ein Solitär in der Musikgeschichte“, sagt denn auch Ingo Metzmacher, „und ein geniales Schlusswort. Verdis zweite Oper, ‚Un giorno di regno‘, war ja ein Misserfolg, worauf er die Komödie jahrzehntelang gemieden hat. Dass er gegen Ende seines Lebens, wo er nichts mehr hätte machen müssen, genau dieses Stück geschrieben hat, ist wie ein Wunder.“ Der deutsche Dirigent war bei den Salzburger Festspielen immer wieder vor allem ein Garant dafür, dass große Werke der Moderne packende Aufführungen erleben konnten: von Luigi Nono, Bernd Alois Zimmermann, Friedrich Cerha oder Wolfgang Rihm. Franz Schuberts „Fierrabras“ war daneben eine klassisch-romantische Ausnahme. Dass ihm nun der „Falstaff“ angeboten wurde, sei „schon eine Überraschung“ gewesen, gibt er zu. Aber andererseits hat der frühere Generalmusikdirektor der Staatsoper Hamburg schon viel Verdi dirigiert – und freut sich auf die „große Herausforderung, dieses Werk gerade mit den Wiener Philharmonikern zu machen“.
Jedenfalls darf man darauf vertrauen, dass Metzmacher auch hier bei seiner bekannten Gewissenhaftigkeit im Umgang mit dem Notentext bleibt: „Nikolaus Harnoncourt hat uns gelehrt, dass man jeder gedruckten Ausgabe gegenüber skeptisch sein muss und die wichtigste Quelle das Autograph darstellt. Ich konsultiere also regelmäßig das Faksimile der Partitur.“ Von der zeitgenössischen Musik her ist Metzmacher die Bedeutung der Metronomzahlen bewusst, denn „die sind dort oft die einzige Information zum Tempo. Bei ‚Falstaff‘ zeigt sich rasch, wie wichtig sie sind, gerade auch für die Relationen der Tempi. Nur so lässt sich der Eindruck herstellen, dass alle Charaktere gleichsam wie Marionetten an Verdis musikalischen Fäden hängen. Und dennoch muss bei aller Präzision spürbar bleiben, dass da keine Maschinen auf der Bühne agieren.“

Entschlossenheit bei Manövern. In Salzburg hat er einen formidablen Sänger und Charakterdarsteller für die Titelpartie: Gerald Finley, bei den Festspielen zuletzt in Aribert Reimanns „Lear“ gefeiert und international etwa neben dem Jago in „Otello“ auch als Wagners Hans Sachs, Amfortas und bald Holländer tätig. Der Kanadier gibt Metzmacher recht: „Verdi war ein Mann des Theaters, der in diesem Fall sehr streng geschrieben hat – aber auch mit unglaublich gutem Komödientiming. Das heißt, die gewohnte und gerne ausgenützte Freiheit im Vortrag, die sängerische Selbstdarstellung: So etwas steht dem genialen Räderwerk dieser Partitur entgegen. Die musikalischen Partikel sind so genau gearbeitet, dass sie exakt zusammenpassen.“ Und Finley ist auch um keine aktuelle Sicht auf Falstaff verlegen: „Er besitzt Verbindungen zum Hof, das nützt seinem Ansehen, aber sein Benehmen ist zugleich abstoßend. Deshalb gilt er als unwürdig. Ein einziger Blick in die internationale Politik genügt, und wir erkennen Falstaffs moderne Vettern.“ Eine Beobachtung übrigens, die für Macbeth nicht minder zutrifft.
Aber natürlich hegt der Bariton auch Sympathie für die Figur: „Wäre Falstaff nicht so aufgeblasen und von sich überzeugt, könnte er niemals die in seinen Augen brillanten Pläne verfolgen, an Frauen und Geld zu kommen. Aber gerade seine Entschlossenheit bei möglichen und unmöglichen Manövern lässt eine Prise Charme erahnen. Als vermeintlich mutiger Ritter genießt er das Risiko, ist spontan. Am Anfang des dritten Aktes, nachdem er mit der Wäsche in die Themse geworfen wurde, ist er patschnass, hundemüde, gedemütigt, pleite – und tut sich enorm leid. Dass er aber in dieser Lage seinen Humpen Glühwein feiert, ist für mich einer der größten Momente der Oper: Trost in den kleinen Dingen zu finden, ist zutiefst menschlich und berührend.“

Metzmacher und Finley haben schon mehrfach miteinander musiziert, für beide aber ist es die erste Begegnung mit dem Regisseur Christoph Marthaler: Der Dirigent arbeitet freilich längst eng mit ihm zusammen und schätzt ihn für seinen spezifischen Humor; der Bariton ist immer auf überraschende Sichtweisen neugierig, „bei denen die Musik respektiert wird und die Charaktere Wert besitzen“. Was das Polit- und Gewissensdrama „Macbeth“ und „Falstaff“ und seinen prickelnden Spaß mit Tiefgang jedenfalls verbindet, ist die Zurückdrängung alles opernhaft Kulinarischen zugunsten einer mitreißenden Wahrhaftigkeit, die ja weit mehr ist als bloßer Realismus.
Dass die Salzburger Festspiele in diesem Sommer das Alpha und Omega von Verdis Shakespeare-Vertonungen einander gegenüberstellen, macht die Programmierung besonders reizvoll. Neben dem eher auf Überraschung zielenden Leading Team für den erlesen besetzten „Falstaff“ prolongiert der „Macbeth“ eine bereits erprobte Zusammenarbeit: Franz Welser-Möst am Pult, Regisseur Krzysztof Warlikowski und Asmik Grigorian, die als Lady Macbeth debütiert, wurden hier zuletzt nach Richard Strauss’ „Elektra“ umjubelt.

Walter Weidringer

Zuerst erschienen am 20.05.2023 in Die Presse Kultur Spezial: Salzburger Festspiele

Videos

20. Januar 2023
Falstaff | Salzburger Festspiele 2023 – Trailer 1
17. Februar 2023
Macbeth | Salzburger Festspiele 2023 – Trailer 1
Falstaff | Salzburger Festspiele 2023 – Trailer 1
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