7 Jul 2022

Was ist noch Wirklichkeit, was ist schon Traum?

Was ist noch Wirklichkeit, was ist schon Traum?

Die Zauberflöte

Nein, es sei alles andere als das Gleiche, sagt Regisseurin Lydia Steier über das Verhältnis der diesjährigen Neueinstudierung zur Inszenierung von 2018. Das zeige sich schon daran, dass von der damaligen Vielzahl an Fotos nur noch ein oder zwei verwendbar seien.

„Wir sind Markus Hinterhäuser für die Möglichkeit, die Oper unter neuen Bedingungen inszenieren zu können, sehr dankbar. Das Haus für Mozart als neue Spielstätte erlaubt eine intimere Perspektive auf die erzählte Geschichte.“

Als Kernelement gleich geblieben ist der Ausgangspunkt einer vom Großvater erzählten Familiengeschichte, die durch die Augen der Kinder Realität wird. Zwei Drehscheiben auf der Bühne ermöglichen es, immer tiefer in die Erzählung einzutauchen – „vergleichbar mit Alice im Wunderland, die durch verschiedene Türen immer neue Welten und Perspektiven entdeckt“, erläutert Steier weiter.

Das Prinzip einer völligen Neubefragung trifft auch auf musikalischer Ebene zu. „Die Zauberflöte ist wohl die meistinterpretierte und meisthinterfragte Oper“ sagt Joana Mallwitz dazu. „Auch ich muss gestehen, dass ich mich erst einmal vom Blick auf bestimmte Traditionen freimachen musste“, erzählt sie, obwohl sie das Werk bereits an verschiedenen Häusern dirigiert hat. „Damit meine ich nicht, das Stück gegen den Strich zu bürsten, sondern genau auf die Partitur zu schauen – nirgendwo sonst findet man die Antworten“, führt sie weiter aus.

Zur Erzählperspektive und zur Frage dazu, was wir aus dem Blick durch die Augen der Kinder auf unsere Welt lernen können, sagt Lydia Steier weiter: „Natürlich ist die Zauberflöte auf der einen Seite ein Märchen, auf der anderen Seite ist sie fast eine Meditation über Themen, die sehr erwachsen sind“. Darin, von Sarastro verkörperte Worte wie Weisheit und Tugendhaftigkeit dem Publikum auf charmante und spielerische Weise zu vermitteln, liege hier die Herausforderung.

Die Musik beschreibt Joana Mallwitz, die 2020 in Così fan tutte bei den Festspielen mit herausragendem Erfolg debütierte, weiter: „Bei Mozart reicht es nicht, einfach auf die Noten zu schauen. Die allerhöchste Kunst besteht darin, zu sehen, wie beispielsweise Akzente und Tempoübergänge geformt sind, dass es wie ein perfekter Papierflieger ist, der einfach fliegt. Das ist für mich die Musik von Mozart“.

Auf szenischer Ebene hätten sich natürlich auch die weltweiten Veränderungen seit 2018 ausgewirkt, sagt Lydia Steier: „Schon damals hatten wir den Blick auf eine Welt gerichtet, in der Kriege und anderes Elend vorkommen. Die Jahreswende 1912/1913 war der Punkt, an dem wir standen, seitdem haben wir alle einen anderen Blickwinkel, wir haben alle etwas verloren – im günstigsten Fall nur Zeit oder Geld, im schlimmsten Fall einen Menschen oder Gesundheit. Unsere Augen und auch die Augen der Sänger sehen anders. Was vorher nur prognostiziert wurde, ist Wahrheit geworden. Wir haben aber das Glück, ein junges Team zu haben, das sich engagiert mit aktuellen Themen auseinandersetzt, nicht nur mit dem Thema Krieg, sondern beispielsweise auch mit der Frage: Ist die Rolle der Pamina frauenfeindlich?“ Dazu gehöre auch, der neuen Generation zu erklären, was die Welt für sie bereithält – nicht nur im Hauptkonflikt des Stücks zwischen Sarastro und der Königin der Nacht, sondern auch mit Blick auf externe Konflikte.

Die besondere Gattung des Singspiels in Mozarts Schaffen charakterisiert Joana Mallwitz so: „Diese Form bereitet Mozart schon in seiner Entführung (Anm.: Die Entführung aus dem Serail) vor. Zu oft wird zu wenig Gewicht auf den Dialog zwischen Mozart und Schikaneder gelegt. Zwei Dinge sind dabei unabhängig von der Regie wichtig und finden sich wunderbar in Lydias Konzept: Zum einen der Fokus auf das Erzählen der Geschichte, auch unter dem Aspekt, intensiv an der fließenden Grenze zwischen gesprochenem und gesungenem Text zu arbeiten. Zum anderen, herauszuarbeiten, was alles für Themen gestreift werden. Die Zauberflöte ist voller Rätsel, auf die es keine Antworten gibt. Dennoch ist es wichtig, die Reichweite der Themen aus der Perspektive darzustellen: Was ist noch Wirklichkeit, was ist schon Traum?“

Zur Funktion der hinzu erfundenen, von Roland Koch verkörperten Erzählerfigur des Großvaters merkt Joana Mallwitz an: „Seine Rolle ist spannend – genau im Hinblick auf das, worauf wir hinarbeiten. Die Geschichte wird erzählt, der Zuhörer wird in sie hineingezogen“ und Lydia Steier ergänzt: „Der Großvater ist nicht nur irgendeine Figur, er ist vielleicht sogar die zentrale Figur, er sieht Tamino als junges Abbild von sich selbst. Im Esszimmer hängt ein großes Porträt von Pamina als verstorbene Großmutter, die Kinder sehen in ihr die Prinzessin, gleichzeitig blickt der Großvater mit leidenschaftlicher Nostalgie auf die Frau, die er geliebt hat. Tamino begegnet in der Erzählung Freude und Schmerz, Themen wie Verlust und persönliche Ängste schwingen in der Erzählung mit.“

Die Frage, ob gemeinsame klare Zielsetzungen der Schlüssel zu einer guten Opernarbeit ist, beantwortet Lydia Steier mit einem klaren „Ja! Wir haben beide starke Ideen mit einem klaren Blick auf das Ganze. Die Inszenierung muss das Rückgrat der Musik sein“. Im Hinblick auf das künstlerische Miteinander betont sie: „Selten macht die Zusammenarbeit so viel Spaß!“, Joana Mallwitz schließt sich dem an: „Beides muss Hand in Hand gehen, bei Mozart noch mehr: In dem Moment, in dem man eine Phrase singt, muss alles stimmen. Da merkt jeder Zuhörer sofort: Stimmt der Impuls oder nicht.“

Einen Moment, der ihr musikalisch besonders am Herzen liegt, gebe es auch, verrät Joana Mallwitz: „Das ist die Nummer 19, das Terzett. Es ist eine der am meisten unterschätzten Nummern, die beim Publikum nicht so bekannt ist. Es ist wie ein Brennglas“, und mit Blick auf die Tonarten erklärt sie: „Die B-Tonarten stehen für Emotionen und Mitgefühl, die ganze Welt Sarastros liegt auf der anderen Seite des Quintenzirkels.“ Der Wunsch nach Ruhe werde hier als eine Art Leit- oder Schicksalsmotiv beschworen.

Als Wirkung der Inszenierung wünscht Lydia Steier sich, dass sie nachhallt, dass der Zuschauer sich daran erinnert, dass er „die Reise mit uns macht und mit der Zeit durch eine neue Perspektive sieht.“

Über den künstlerischen Arbeitsaufwand und die Intensität sagt Joana Mallwitz: „Weniger Probenarbeit bedeutet das nicht. Für mich ist es und muss es eine Neueinstudierung sein, ich muss herausfinden: Wie passt es im Team, wie kommen wir zusammen. Das ist harte Arbeit, das ist kein Unterschied zur Così“. Definitive Antworten wird man wohl nie finden, aber ich suche danach“. Worum es gehe, sei letztlich ein in frischer Blick, der vom Notenbild weggeht und am Ende jede Note mit der Zielrichtung befragt „Warum stehst du da“?