Suchen, forschen
Alles, nur nicht einfach. Eine Personale widmet sich dem Werk und Schaffen Wolfgang Rihms.
Was soll denn daran, bitte schön, einfach sein?“, rief der Komponist und schleuderte einen Bleistiftspitzer in hohem Bogen in die Ecke des Zimmers: Wolfgang Rihm, Vortragender bei einem Komponisten-Forum Ende der Siebzigerjahre. Gerade war er mit seiner Kammeroper Jakob Lenz vom Geheimtipp der deutschen Szene zu internationaler Berühmtheit aufgestiegen. Da war einer, der sich keinen Deut um die gängigen Parameter der Neuen Musik scherte, der aufs Notenpapier schrieb, was ihm gerade einfiel. Inspiration statt zwanghafter Konstruktion, lautete – unausgesprochen – Rihms Motto. Er selbst wusste das eloquent und viel weniger plakativ auch immer in Worte zu fassen und bediente sich beim Sprechen einer so vielfältigen Argumentationskette, wie er beim Komponieren formale Prozesse entwickelte, vegetativ, forschend, suchend, verwerfend und nicht selten auch immer wieder auf ein Thema zurückkommend, um es neu zu definieren und zu verhandeln.
Wildes Wuchern. Was daran „einfach“ sein sollte, konnten auch die nicht erklären, die dem Mann aus Karlsruhe, der schon als Dreißigjähriger einen Werkkatalog vorgelegt hatte, den ein anderer nach lebenslangem Schaffen nicht vorweisen kann, gern das in jenen Jahren modisch werdende Schlagwort „Neue Einfachheit“ anheften wollten. Ja, er war einer von denen, die gegen den Materialzwang und die hörerverachtenden Avantgarde-Reglements aufbegehrte. Der seine Lehrstunden in Sachen Neuer Musik, Serialismus, und was es dergleichen gab, im Studium bei Karlheinz Stockhausen genommen hatte – und sich herausnahm, Musik zu schreiben, wie sie ihm gefiel. Damit hatte er auch das Publikum rasch auf seiner Seite, das ihm staunend folgte, bei Trommelorgien und wild wuchernden, dunkel tönenden Orchesterklangorgien. Und bei den fragilen Linien, die er als Feinzeichner zu ziehen wusste, etwa wenn es im „Lenz“ um die Durchleuchtung der geborstenen Psyche des Goethe-Vertrauten Jakob Michael Reinhold Lenz ging, dessen seltsames Schicksal der Mittzwanziger Rihm zum Protokoll des Leidens des künstlerisch produktiven Menschen an einer zerstörerisch-reglementierenden Umwelt machte.
Mit Jakob Lenz hat die große Reise Wolfgang Rihms unter den Augen und Ohren der Kulturwelt begonnen. Eine konzerante Aufführung der bahnbrechenden Oper steht auch am Beginn der diesjährigen Salzburger Festspiele, die dem Komponisten mit einer Personale zum 70. Geburtstag gratulieren. Mit der Überfülle des Œuvre-Katalogs – eine Zeit lang ist Rihms Wiener Verlag, die Universal Edition, kaum mit dem Drucken der Partituren nachgekommen – haben die Verantwortlichen im Festspielbezirk schon Erfahrungen gesammelt. Rihms Musik steht nicht zum ersten Mal im Fokus. Schwerpunkte gab es in den Jahren 2000, 2010 rund um die Uraufführung des „Dionysos“, 2014 und im Jahre darauf mit der szenischen Produktion der Eroberung von Mexic“. 2021 hat Wolfgang Rihm die „Rede über das Jahrhundert“ gehalten. Und heuer gibt es nebst Jakob Lenz während der Ouverture spirituelle die Passionsmotetten-Vigilia, und dann im Laufe der Festspiele den neunteiligen Chiffre-Zyklus, ein Klangexperiment der besonderen Art, in dem stetig wechselnde Instrumentalkombinationen versuchen, den Klangraum auf immer neue Weise zu erkunden: ein Abenteuer – für die Hörer, für die Spieler und sogar für den Komponisten.
von Wilhelm Sinkovicz
Zuerst erschienen am 20.07.2022 in Die Presse Kultur Spezial: Salzburger Festspiele