13 Jan 2021

„Ein großer Schrei nach Menschlichkeit“ Ingo Metzmacher im Gespräch über Luigi Nono

Salzburger Festspiele 2021

Ingo Metzmacher dirigiert
Intolleranza 1960 (Luigi Nono)

Intolleranza 1960, Luigi Nonos erstes Musiktheaterwerk, entstand im Auftrag des Internationalen Festivals für zeitgenössische Musik der Biennale von Venedig und wurde 1961 im Teatro La Fenice uraufgeführt. Der italienische Komponist wollte eine neue Form des Musiktheaters kreieren und verwendete dafür neue Kompositionstechniken, elektronische Musik, Tonbandaufzeichnungen etc. und bezeichnete Intolleranza deshalb auch nicht als „Oper“, sondern als „azione scenica“, als „szenische Handlung“. Bei den Salzburger Festspielen 2021 dirigiert Ingo Metzmacher, der 1990 erstmals bei den Festspielen aufgetreten ist, die Wiener Philharmoniker und die Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor.

Sie kannten Luigi Nono persönlich und sind wohl jener Dirigent, der mit seinem Werk am vertrautesten ist. Können Sie den Stellenwert, den Intolleranza 1960 für Sie persönlich und musikalisch einnimmt, beschreiben?

Ich kannte Luigi Nono in seinem letzten Lebensjahr und er hat mich damals sehr beeindruckt und beeinflusst auch in meiner ganzen Haltung der Musik gegenüber, weil er einen immer dazu aufgefordert hat, nach dem Klang zu suchen. Er hat nicht gesagt, das muss so oder so sein, sondern er hat gemeint: Du musst suchen und finden. Das hat mich sehr geprägt. Er hatte ein unglaublich hohes musikalisches Ethos – so würde ich das nennen. Er hat immer Musik geschrieben, die sich für etwas eingesetzt hat, die von einem inneren Ethos getragen war, in der Form eigentlich nur vergleichbar mit Komponisten wie Schönberg oder Beethoven. Intolleranza ist ein großer Schrei nach Menschlichkeit. Sehr intensiv, sehr italienisch natürlich auch. Und Nono hat immer auch nach einer neuen Form des Musiktheaters gesucht. Er wollte keine normale Oper schreiben. Aber er steht natürlich auch in der Tradition von Verdi, der sich ebenfalls immer für eine bestimmte Haltung eingesetzt hat. Der wollte nicht nur schöne Musik schreiben, es ging immer um etwas.

In Ihrem Buch Keine Angst vor neuen Tönen haben Sie geschrieben: „Nono wollte den Menschen die Ohren öffnen, damit sie fähig würden, durch Gehörtes Wesentliches zu erfahren. Etwas das nur auf diesem Weg zu erfahren ist“. Wie würden Sie diese Hörerfahrung jemandem, der sein Werk nicht kennt, beschreiben – gerade auch in Bezug auf Intolleranza. Was ist der Unterschied zu einer „normalen“ Oper?

Luigi Nono hat in Venedig nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen mit Bruno Maderna vor allem Musik von Monteverdi und anderen großen Renaissancekomponisten studiert. In dieser Zeit war die Syntax eine ganz andere. Und meiner Meinung nach hört man in seiner Musik diesen Bezug. Da ist etwas Altes drin, etwas Elementares. Und dann prägten ihn natürlich die Zwölftonmusik wie auch die serielle Kompositionsweise und die modernen Komponisten in den 50er- und 60er-Jahren. Am meisten fallen die Klangmassen, Klangballungen auf. Es gibt keine Einzelstimmen, es gibt den Klang aller zusammen – der sich verschiebt, der ganz leise sein kann, der gewaltig laut sein kann. Ganz still kann die Musik manchmal sein, dann schreit sie wieder. Es ist eine Musik der Extreme, die, wenn sie gut gemacht ist, unmittelbar packt.

„Eine Chor-Oper, die sehr bewegt“

Die Oper beginnt relativ unüblich mit einem Chor, der dann als Chor der Bergarbeiter, der Demonstranten, der Gefolterten, der Gefangenen, der Flüchtlinge immer wieder vorkommt. Das Chorische spielt eine große Rolle – ist Intolleranza vielleicht sogar eine Chor-Oper?

Ja, es ist absolut eine Chor-Oper. Der Gesang an sich hat eine große Rolle in Nonos Werk gespielt. Das Singen ist ihm als Italiener irgendwie der natürlichste Zugang zur Musik gewesen. Er hat sehr viele Stücke für Chor geschrieben. Sein vielleicht bekanntestes Stück ist Il canto sospeso, das in Intolleranza auch zitiert wird. Menschen haben ihn immer besonders interessiert, nicht einzelne Personen, sondern Menschen, die zusammen etwas ausdrücken, gemeinsam etwas empfinden. Und Chorgesang ist sowohl für die Ausführenden als auch für die, die hören, immer etwas sehr Bewegendes. Ich glaube, das hat er auch bewusst so gewählt.

Wenn man sich die Handlung ansieht, liest sich diese hochaktuell: ein Flüchtling, der am Rande einer Demonstration eigentlich unverschuldet in Polizeigewalt kommt, dort gefoltert wird, dann wieder freikommt und zum Schluss bei einer Naturkatastrophe umkommt. Da könnte man jetzt natürlich sagen: Xenophobie, Polizeigewalt, Klimawandel – das sind alles hochaktuelle Themen. Ist Ihnen das zu kurz gegriffen, dass man diese einfachen Parallelen zu unserer Zeit zieht?

Es ist zuerst einmal ein zeitloses Stück – natürlich in seiner Zeit entstanden, 1960, wie es im Titel auch heißt. Aber es wendet sich den zentralen Problemen, die ja eigentlich immer eine Rolle spielen, zu – und insofern bleibt es aktuell. Vielleicht ist es heute sogar noch aktueller als damals.

Sie werden die Wiener Philharmoniker dirigieren. Welche besondere Qualität verlangt eine Komposition von Nono von solch einem Orchester und warum sind die Wiener Philharmoniker dafür besonders geeignet?

Wir haben schon bei Al gran sole carico d’amore zusammengearbeitet, und das hat wirklich ganz wunderbar geklungen. Damals habe mich schon gefragt, wie das so entstehen konnte, weil das Werk ja nicht zum normalen Repertoire der Wiener Philharmoniker gehört. Aber was die Wiener Philharmoniker einfach besonders gut können – besser als alle anderen Orchester –, das ist: aufeinander hören und einen gemeinsamen Klang zulassen. Es gibt niemanden, der sich in den Vordergrund stellt, und niemanden, der sich übergebührend zurückhält. Alle versuchen, über die Ohren diesen gemeinsamen Klang zu erreichen, und das ist bei der Musik von Nono entscheidend wichtig, weil es keine Solostimmen und zweiten und dritten Stimmen gibt, sondern alle komplett gleichberechtigt sind.

„Musik geht über das Politische hinaus“

Luigi Nono war ein sehr politischer Mensch – was war denn seine Vision: eine politische Kunst?

Sagen wir es mal so: Er war sehr streitbar, hat sich eingemischt. Vor allen Dingen hat er sich immer gegen Ungerechtigkeit aufgelehnt. Wie haben Sie das genannt – politische Kunst? Das ist schwierig, das würde man Beethoven auch nicht vorwerfen, obwohl er mit Fidelio ein sehr politisches Stück komponiert hat. Ein Komponist interessiert sich in erster Linie für Musik. Nono hat selber genauer beschrieben, warum und wofür er welche musikalischen Mittel eingesetzt hat in Intolleranza. Aber letztlich ist es eben doch Musik – und Musik ist immer etwas, das darüber hinausgeht. Ich finde daher, dass die Begriffe „politische Kunst“, „politische Musik“ die Sache verkleinern, denn Musik geht weit darüber hinaus.

„Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut / in der wir untergegangen sind / gedenkt / auch der finsteren Zeit / der ihr entronnen seid.“