6 Aug 2023

Der kaukasische Kreidekreis

Nach Bertolt Brecht

Der kaukaische Kreidekreis

Das 1993 gegründete Ensemble Theater HORA ist mittlerweile eine der bekanntesten freien Theater- und Performance-Gruppen der Schweiz und nun erstmals bei den Salzburger Festspielen zu Gast.

Lange bevor ich selbst beim Theater HORA arbeitete, besuchte ich regelmäßig seine Vorstellungen. Ob Ensemble-Projekte wie Freie Republik HORA oder Disabled Theatre in der Regie von Jérôme Bel (2012 zum Berliner Theatertreffen eingeladen): Es sind freie, intensive Stücke, die meinen Blick auf das, was Theater sein kann, radikal prägten und veränderten.
Theater HORA ist ein professionelles, koproduzierendes Theaterensemble für Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung. Die Produktionen der letzten Jahre führten das Ensemble etwa an die Münchner Kammerspiele, das Neumarkt Theater und das Schauspielhaus in Zürich sowie über die Ruhrfestspiele bis nach China. Gleichzeitig ist Theater HORA eine (Kultur-)Werkstatt für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung. Im HORA Labor, dem täglichen Grundbetrieb, wird – losgelöst von Produktionsdruck und zusammen mit namhaften Gastkünstler·innen – in Workshops geprobt und experimentiert. HORA bedeutet also, einen 100-Prozent-Job auszuüben.

Die HORA-Spieler·innen erlebe ich als tiefgründige und freie Theatermacher·innen. Denn sie verstehen die Kraft des Theaters in seinem Innersten: Ich kann alles sein. Ich kann alles behaupten. Ich bin ich – und zugleich ein·e andere·r. Wie viel Potenzial und Freiheit in diesem uralten Gedanken tatsächlich liegt, lassen die HORAs ihr Publikum mit Humor und Spiellust immer wieder aufs Neue erleben. Das liegt auch am Grundgedanken von HORA, sein Ensemble nicht an die Normen des Theaterbetriebs anzupassen. Für die Salzburger Festspiele wird in der Regie von Helgard Haug (Rimini Protokoll) eine eigene Version von Bertolt Brechts Der kaukasische Kreidekreis erarbeitet. Das Stück verhandelt den Konflikt zweier Frauen um ein Kind. In einer richterlich angeordneten „Probe“ soll sich zeigen, wer die „wahre“ Mutter ist: Jene, die „ihr“ Kind mit aller Kraft aus dem Kreidekreis zieht, oder jene, die es loslässt, um es nicht zu verletzen?
Wir stellen uns dieser Probe noch mal neu: Wie lässt sich die „alte Sage“ durch Performer·innen erzählen, die wahrscheinlich nie ein Kind haben werden und auf die Fürsorge anderer angewiesen sind? Wie kann zusammen über Kinderkriegen, Kinderhaben und Kindsein nachgedacht werden? Wie über Elternschaft, Fürsorge und Erziehung? Und was hat das alles mit Beeinträchtigung zu tun?

Ivna Žic • Produktionsdramaturgin

zuerst erschienen in der Festspielbeilage der Salzburger Nachrichten 2023