© SF/Monika Rittershaus
ZUR PRODUKTION

„Gut, ich mach die Probe noch einmal, daß ich’s endgültig hab.“

„Gut, ich mach die Probe noch einmal, daß ich’s endgültig hab“, sagt der Richter Azdak, bevor er das Kind ein zweites Mal in den Kreidekreis bittet und die beiden Mütter ein zweites Mal auffordert, zu beweisen, welche die wahre sei. — Soweit ist das Stück bekannt. Eine Sage, „eine sehr alte“. Auch der Ausgang dieser Probe ist bekannt: Der „mütterlichen“, nicht der „amtlichen“ Frau wird das Kind zugesprochen.
Was aber, wenn dem Kind die Wahl übertragen wird? Zwei Mütter bieten sich an, konkurrieren um einen Job, einen Titel, eine Beziehung, eine Aufgabe, einen Nutzen — für welche soll das Kind sich entscheiden? Für eine, die ihr eigenes Kind vergessen hat, oder eine, die das Kind zu lange angeschaut hat, um es wieder vergessen zu können? Für eine, die dem Kind jeden Wunsch erfüllen kann, oder für die andere, der es kaum gelingt, ein paar Tröpfchen Milch zu besorgen? Für die, die sich in Sicherheit zu bringen versteht, oder für die, die sich nicht anders zu helfen wusste und auf der Flucht einen Menschen erschlug? Für eine, die sich kümmert, oder für eine, die weiß, wie man sich bekümmern lässt?
Und war’s das schon? Oder gibt es nicht noch mehr Optionen? Wer steht hier noch zur Wahl? Der Richter Azdak, der Recht spricht, obwohl er sich selbst angeklagt hat und eigentlich Dorfschreiber ist? Ein Anwalt, der alles tut, seiner Klientin zu ihrem Recht zu verhelfen? Panzerreiter, die ihr Leben riskieren, um ihre Pflicht zu erfüllen? Ein verliebter Soldat, der nicht glauben will, dass Veränderungen eintreten können? Ein Bruder, der wenig Brüderliches hat? Ein Mann, der den Sterbenden spielt, um dem Töten zu entgehen? Die, die Altes bewahren wollen, oder die, die das Neue wollen? Die, die besitzen wollen, oder die, die loslassen können?

Und das Publikum — wäre das eine Option? Das ist ja schließlich auch anwesend.
Wem sollte sich das Kind anvertrauen? Wer wird zum Vorbild?
Die Spieler*innen des Theater HORA bringen ihre eigenen Regeln mit ein. Neue Regeln müssen gemeinsam erfunden werden.

Lässt sich die „alte Sage“ durch Performer*innen erzählen, die wahrscheinlich nie ein Kind haben werden und auf die Fürsorge anderer angewiesen sind? Über das Kinderkriegen nachdenken. Über das Kinderhaben nachdenken. Über das Kinderverlieren nachdenken. Dem Kindsein nachspüren. Eine Antwort als Frage lesen. Einem Manifest ein Fragezeichen anheften.
Denken, was nicht gesagt wird, hören, was nur gedacht wird.
Nachschlagen bei Hans-Thies Lehmann, Brecht lesen: „Theater musste etwas anderes werden als eine Selbstfeier des Bürgertums als Publikum. Nicht zu Unrecht sah er [Brecht] sich selbst als den Kopernikus der Theaterkunst, der das gesamte System des Theaters neu dachte: nicht mehr als Vorführung vor und für, sondern als Aufführung mit dem Publikum.“ Weitermachen. Klären, was unbedingt ausprobiert werden möchte. Und was auf keinen Fall geschehen soll. Probieren von Rhythmusmotiven und Tonfolgen, Vertauschen der Rollen, die Perkussionistin Minhye Ko und die Performer*innen entscheiden lassen, was von wem gespielt wird. Über schwebende Bühnenelemente nachdenken und trainieren, wie sich auf Händen laufen lässt. Wie hypnotisiert auf die Bilder einer Livecam in der Wüste Namibias schauen: ein Wasserloch, ein abgestorbener Baum. Beobachten, wie sich die Wildtiere dort einfinden, verdrängen, verdrängen lassen. Entdecken, dass die Livecam auch Ton überträgt, und hören, wie nachts die Hyänen heulen. Probenpläne erstellen, die Aufwärmtraining und Pausen vorsehen. Versuche mit Buchstaben: Welche neuen Wörter können aus dem alten Bestand gebildet werden. Welche Buchstaben müssen auf die Auswechselbank. Weiter Brecht lesen. Weiter Dessau hören. Weiter auf das Wasserloch schauen.
Überlegen, wie es ist auf der Flucht. Überlegen, was zurückgelassen werden wird. Überlegen, wie sich das anfühlen müsste, im Exil. Überlegen, wie ein Neuanfang eine Chance ist. Merken, wie sich alles verändert, wenn der Blick darauf ruht. Sehen, wie Worte auf einen fruchtbaren Boden fallen.
Gut, wir machen die Probe noch mal.

Helgard Haug

Theater HORA aus Zürich ist eine der bekanntesten freien Tanz-, Theater- und Performance-Gruppen der Schweiz. Die Gruppe arbeitet regelmäßig mit wichtigen Künstler·innen und Kollektiven aus dem In- und Ausland zusammen und bespielt lokale, überregionale und internationale Orte der Theaterszene. Gleichzeitig ist Theater HORA eine (Kultur-)Werkstatt für Menschen mit mehrheitlich kognitiver Beeinträchtigung.
Mit Jérôme Bels Produktion Disabled Theater wurde Theater HORA 2012 als eine der zehn besten Inszenierungen zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Dies wurde überregional nicht nur als beachtliche künstlerische Leistung gefeiert, sondern auch als bahnbrechendes Zeichen für die Inklusion gewertet. 2016 erhielt Theater HORA vom Bundesamt für Kultur die höchste Theaterauszeichnung der Schweiz, den Schweizer Grand Prix Theater/Hans-Reinhart-Ring. Seit der Spielzeit 2020/21 besteht unter anderem eine auf Dauer angelegte Kooperation mit den Münchner Kammerspielen, die zum Ziel hat, mittels gemeinsamer Produktionen und dem Austausch von Erfahrungswerten, eine strukturell und inhaltlich inklusivere Theaterpraxis weiter zu erarbeiten und zu etablieren.

Seit seiner Gründung 1993 hat Theater HORA maßgeblich dazu beigetragen, die oftmals defizitorientierte, öffentliche Wahrnehmung von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung zu verändern und auf ihre mitunter außergewöhnlichen Fähigkeiten aufmerksam zu machen. Die selbstbewusste und außerordentlich frei wirkende Bühnenpräsenz seiner Schauspieler·innen ist seit der Gründung ein wesentliches Charakteristikum der Gruppe. Theater HORA betrachtet seine Schauspieler·innen als unverzichtbare, einzigartige und künstlerisch ebenbürtige Mitarbeitende. Die Förderung der Selbstbestimmtheit als Menschen und Künstler·innen ist denn auch das Herzstück der HORA-Philosophie.

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