Der Schneesturm

Vladimir Sorokin gilt als einer der bedeutendsten russischen Autoren und als einer der schärfsten Kritiker Putins. Kirill Serebrennikov dramatisiert und inszeniert dessen Roman Der Schneesturm. Ein Interview mit dem Autor.

© Frol Podlesnyi

Ihr Schneesturm erscheint auf den ersten Blick als ein Wiedergänger aus den Untiefen der russischen Literatur. Er ist ein Kondensat oder Intertext der russischen Schneesturm-Tradition. Ihre Geschichte mit Landarzt und Kutscher, draller Müllerin, Zwergpferden und Riesen spielt in einer imaginären Zukunft, die sich aus der russischen Vergangenheit speist und im Grunde unsere Gegenwart meint. Fordert die Geschichte eine parabelhafte Lektüre?

Vladimir Sorokin: Ich wollte schon lange eine klassische russische Winternovelle schreiben, in der sich die Metaphysik des weitläufigen Raums als stärker erweist als die Menschen. Russland ist ein riesiges, zu großen Teilen unbewohntes Land. Das Leben der Russen in der Provinz hängt nicht so sehr von der fernen Macht im Kreml ab, sondern wird maßgeblich von diesem Raum geprägt. In der Provinz ändern sich die Lebensweise und die Beziehungen zwischen den Menschen seit Jahrhunderten nicht. In diesem Sinn ist Der Schneesturm eine Zeitmaschine, mit der der Autor gerne aus der Zukunft in die Vergangenheit reist. Das Thema der Geschichte ist in jeder Hinsicht ein klassisches: Ein Arzt, der der Bildungsschicht angehört, und ein ungebildeter Kutscher versuchen, durch einen Schneesturm zu kommen, um zu den Kranken zu gelangen und diese zu retten. Dieses Sujet ist untrennbar mit dem russischen Provinzleben verbunden – es wiederholt sich endlos und wird sich auch in Zukunft endlos wiederholen. Es zieht wie ein Schlitten die gesamte literarische Tradition des 19. Jahrhunderts hinter sich her.

Mit welchen Gedanken und Gefühlen blicken Sie heute auf diesen Text, den Sie 2010 geschrieben haben – in der kurzen Periode, in der nicht Putin, sondern Dmitri Medwedew Präsident war und Russland von tödlichen Waldbränden und Hitzewellen heimgesucht wurde?

Vor dem Hintergrund des weiten russischen Schneeraums sind der Kreml und seine jeweiligen Machthaber so weit entfernt und so unbedeutend, dass sie niemand zur Kenntnis nimmt. Die Machthaber im fernen Kreml wechseln wie eine Fata Morgana, real bleiben nur die verschneiten Felder und die Bemühungen der Menschen, sie zu durchqueren.

Mit Kirill Serebrennikov verbindet Sie nicht nur eine Freundschaft, Sie beide haben Russland 2022 nach Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine verlassen und leben jetzt im Berliner Exil. Sie haben Serebrennikov, während er unter Hausarrest stand, Ihr Werk Das weiße Quadrat gewidmet. Warum vertrauen Sie ihm als Regisseur den Schneesturm an?

Vor langer Zeit, als der junge Regisseur Serebrennikov aus Rostow am Don nach Moskau kam, wandte er sich mit der Idee an mich, mein Stück Pelmeni (Hochzeitsreise) zu inszenieren. Aber aus irgendwelchen Gründen wurde nichts daraus. Seit dieser Zeit begann er jedes Mal, wenn wir uns sahen, das Gespräch mit dem Satz: „Ich möchte unbedingt einen Sorokin inszenieren.“ Worauf ich immer sagte: „Ja, natürlich.“ Und jetzt ist es so weit! Ich freue mich sehr darüber. Ich habe die Fassung bereits gelesen, ich finde sie hervorragend. Kirill ist ein großer Meister des Theaters.

Serebrennikov interessiert sich vor allem für die dritte Hauptfigur des Romans: den Schneesturm, den er mehrfach besetzt. Ihn interessiert die absolute Orientierungs­losigkeit des Whiteout. Was können wir im Kontrollverlust erfahren, vielleicht sogar lernen?

Ein Schneesturm ist ein Wesen, das dem Menschen die Haut der Zivilisation abzieht. Und der Mensch bleibt in diesen verschneiten Weiten existenziell nackt. In solch ausweglosen Situationen besinnt sich der Intellektuelle auf Kierkegaard und Nietzsche, während der Bauer betet. Alle Herausforderungen, die eine metaphysische Dimension besitzen, lehren uns, an die Kraft des Geistes zu glauben.

Worin sehen Sie die Herausforderungen an die Kunst in Zeiten des Krieges – und momentan ganz konkret die Aufgabe von russischen Künstler·innen?

In Zeiten des Krieges, so scheint mir, besteht die Aufgabe der Kunst darin, Kunst zu bleiben. Das heißt, der Schriftsteller muss ein Schriftsteller bleiben und darf nicht zum Journalisten werden, der seine Energie dem Übel des Tages widmet. Dafür gibt es Korrespondenten und Kriegsberichterstatter. Glücklicherweise enden alle Kriege früher oder später, aber die Literatur bleibt bestehen. Ein Soldat, der aus dem Krieg zurückkehrt, wird einen Schriftsteller fragen: „Was hast du in dieser Zeit Interessantes geschrieben?“ Wenn der Schriftsteller dann antwortet: „Hier ist meine Kriegsberichterstattung“, dann wird ihm der Soldat erwidern: „Ich habe genug vom Krieg. Ich will was anderes.“ Und damit wird er recht haben.

Die Fragen stellte Birgit Lengers
Zuerst erschienen in der Festspielbeilage der Salzburger Nachrichten

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9. Dezember 2024
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