Wie ernst meinen wir’s mit Nächstenliebe?
„Man würde hoffen, dass es schwieriger wäre, zeitgenössische Parallelen zu finden.
Aber dem ist leider nicht so.“
Politik versus Religion: In Bohuslav Martinůs packender Oper „The Greek Passion“ wird aus einem Passionsspiel blutiger Ernst.
Die Osterglocken läuten. Das ganze Dorf feiert Christi Auferstehung. Doch auch eine besondere Ehre ist zu vergeben: Der Priester Grigoris und die anderen Honoratioren bestimmen die Darsteller für das nächstjährige Passionsspiel. Die lange Vorbereitungszeit soll freilich auch günstig auf den Alltag abfärben. Der Wirt Kostandis etwa, für den Apostel Jakobus ausersehen, soll seinen Kaffee nicht mehr strecken und aufhören, seine Frau zu schlagen; der Händler Yannakos, mit dem Part des Petrus bedacht, seine Betrügereien beenden und so fort. Der Schmied Panait kann schließlich überzeugt werden, den Judas zu übernehmen: ohne Verräter keine Erlösung. Und Jesus selbst? Der junge Schafhirt Manolios hält sich nicht für würdig. Aber welcher Mensch wäre schon würdig? Grigoris segnet die Auserwählten. Als griechische Flüchtlinge im Dorf eintreffen, reißt ein Graben quer durch die Gemeinschaft auf, der zeigt, wie sehr sich die Auserwählten schon ihren Rollen angenähert haben: Die Fremden haben alles verloren und hungern, doch Grigoris und die Ältesten wollen nichts von deren Unglück wissen. Nur die Passionsdarsteller begreifen, dass dies der Moment ist, die stets gepredigte Nächstenliebe in die Tat umzusetzen. Unter der Führung von Manolios, der sich immer mehr in die Christusgestalt hineinsteigert, treten sie für die Armen und Rechtlosen ein. Das macht Manolios zunehmend zum unerwünschten Aufrührer. Und das biblisch fundierte Unheil nimmt seinen Lauf …
Wurzeln in Kriegszeiten. Im griechischen Dorf Lykovrissi im Anatolien des Jahres 1922 siedelte Nikos Kazantzakis (1883–1957) seinen 1948 entstandenen Roman „O Christòs xanastravronete“ an, der in vielen Sprachen als „Griechische Passion“ erschienen ist, im Original aber „Christus wird wieder gekreuzigt“ heißt. Das verankert die Handlung historisch im Endstadium des Griechisch- Türkischen Kriegs, der aus dem Ersten Weltkrieg hervorgegangen war: Der Untergang des Osmanischen Reichs ließ damals das Königreich Griechenland und seine Verbündeten einerseits und die Anhänger eines türkischen Nationalstaates andererseits um Anatolien kämpfen. „Ethnische Säuberungen“, also Gräueltaten und daraus resultierende Flüchtlingsströme, waren die Folge. Kazantzakis, von dem etwa auch der Roman „Die letzte Versuchung“ stammt, dessen Verfilmung durch Martin Scorsese 1988 noch erhebliche Proteste von Gläubigen provoziert hat, ging es jedoch auch mit diesem Buch nicht um eine fundamentale Kritik an der christlichen Religion, sondern eher um die Anprangerung sozialer Missstände und des Autoritätsmissbrauchs kirchlicher wie politischer Würdenträger. Der weit gereiste Kazantzakis konnte schließlich von sich feststellen: „Ich war ein Fassbinder, ein Verfechter der Katharévousa [einer konstruierten neugriechischen Hochsprache, Anm.], ein Nationalist, ein Verfechter der Dimotikí [der neugriechischen Volkssprache, Anm.], ein Intellektueller, ein Poet, ein religiöser Fanatiker, ein Atheist, ein Ästhet – und nichts davon kann mich je wieder täuschen.“
Ein bewegtes Künstlerleben mit der kreativen Verarbeitung verschiedenster Einflüsse seiner Zeit hat auch Bohuslav Martinů (1890–1959) geführt, der im ostböhmischen Polička noch als Untertan von Kaiser Franz Joseph zur Welt gekommen ist. Seine Familie wohnte fast 40 Meter über der Stadt knapp unter der Turmspitze der Jakobskirche, da der Vater, ein Schuster, sein karges Einkommen als Brandwächter aufbesserte. Mit 19 wurde der Hochbegabte wegen „unverbesserlicher Nachlässigkeit“ aus dem Prager Konservatorium geworfen, um dann desto unbekümmerter und inspirierter draufloszukomponieren. Volksmusik, Impressionismus, Jazz, Polytonalität, Neobarock: All das und mehr erprobte Martinů für sich und strebte daraufhin nach einer persönlichen Synthese aller vergangenen Stilepochen. Nach langen Jahren in Frankreich ging er unter dem Schock der anrückenden Nazis 1941 in die USA, wo er an der Princeton University und in Tanglewood unterrichtete, bevor er 1946 eine Professur für Komposition an jenem Institut angeboten bekam, das ihn seinerzeit vor die Tür gesetzt hatte. Ein schwerer Unfall vereitelte allerdings die Rückkehr in die Heimat: Bei einem Sturz zog sich Martinů eine Schädelverletzung zu, die unangenehme Langzeitfolgen auch für sein Gehör hatte. Immerhin sollte ihn das vor der kommunistischen Diktatur bewahren. 1952 wurde er US-Bürger und pendelte in der Folge zwischen Europa und den USA; mittlerweile hatte sich Martinůs Musik abgeklärt und einem eher diatonischen Idiom angenähert. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er in der Schweiz.
Vom Roman zur Oper. 1954 hatte Martinů in Nizza Nikos Kazantzakis kennengelernt und sich zunächst für dessen Welterfolg „Alexis Sorbas“ als Opernstoff interessiert. Dem Autor gelang es jedoch, Martinůs Leidenschaft auf „The Greek Passion“ umzuleiten: Martinů komponierte ein selbst eingerichtetes englisches Libretto auf Basis der entsprechenden Übersetzung, weil er sich Hoffnungen auf eine Uraufführung am Royal Opera House Covent Garden unter Rafael Kubelík machte. Seine eingängige, aber niemals simple Tonsprache stützt sich dabei auf Kraft und Aura von Chorgesang und Kirchenmusik, auf Volksmusikanklänge, raffinierte Farbmischungen und expressionistische Zuspitzungen. Es gehört zu den politischen Implikationen des Werks und den bezeichnenden Verwerfungen seiner Entstehungsgeschichte, dass letztlich ein weiterer Konflikt derselben Parteien die Premiere in London unerwünscht erscheinen ließ: Sowohl Griechenland als auch die Türkei beanspruchten die damals noch vom UK besetzte Insel Zypern für sich. Nach einer grundlegenden Überarbeitung durch den Komponisten konnte die Oper erst 1961 in Zürich erstmals über die Bühne gehen – fast zwei Jahre nach Martinůs Tod. Diese Fassung ist nun in Salzburg zu erleben.
Für Simon Stone sind die in Griechenland angekommenen Flüchtlinge der Gegenwart und ihre Nöte ein weiterer Beleg dafür, wie aktuell „The Greek Passion“ geblieben ist: „Man würde hoffen, dass es schwieriger wäre, zeitgenössische Parallelen zu finden. Aber dem ist leider nicht so.“ Der in London lebende Regisseur ist bekannt dafür, seine Operninszenierungen in der jeweils konkreten Gegenwart zu verankern: Bei den Salzburger Festspielen hat er damit bei Aribert Reimanns „Lear“ reüssiert sowie mit Luigi Cherubinis „Médée“ für Diskussionsstoff gesorgt. Nun inszeniert er „The Greek Passion“ mit einer namhaften Besetzung, die Sebastian Kohlhepp und Gábor Bretz als Manolios und Grigoris anführen. „Fremdenangst steckt in uns allen“, sagt Stone, „und würde ein Bekannter plötzlich sagen: Ich brauche nichts und niemanden, ich setze mich nur noch für andere ein – wir würden ihn für verrückt halten.“ Neben der menschlichen Schwäche, sich fürs Gute nur so lange einzusetzen, solange man selbst dabei auf nichts verzichten muss, fesselt den Regisseur an diesem Werk auch die Ambivalenz zwischen dem passiven Erdulden und dem aktiven Kampf gegen Ungerechtigkeit. Die Felsenreitschule sei der ideale Ort, diese Geschichte umzusetzen.
Zeitlose Moderne. Am Pult der Salzburger Neudeutung von Martinůs „Greek Passion“ steht Maxime Pascal. Seit der junge Franzose 2014 den Festspiel-Dirigierwettbewerb gewonnen hat, konnte er auch hier seinen hervorragenden Ruf als Interpret gerade der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts beweisen – im letzten Sommer mit Arthur Honeggers „ Jeanne d’Arc au bûcher“ und Wolfgang Rihms „Lenz“. Er und Simon Stone sind von Martinůs Musik gleichermaßen begeistert: „Martinů verzichtet auf alle modernistischen Experimente, aber nichts an seinem Werk klingt veraltet“, schwärmt der Regisseur: „Die Musik ist emotional, aber nie kitschig.“ Pascal sekundiert: „Martinů zeigt eine enorme Sensibilität für den Text, er lauscht genau auf die Worte und auf den Klang, die sie in ihm hervorrufen. Die Art der Feinfühligkeit erinnert mich an Schumann, aber auch an Debussy: Es ist eine Komponierweise, die tief ins Unterbewusste hinabreicht.“ Und noch etwas findet der Dirigent berührend: „Dass in dieser Oper Interpreten für die Passion Christi ausgesucht werden, ist wie eine Metapher für uns Musiker: Wir sind dazu da, die großen Werke immer wieder aufs Neue zum Leben zu erwecken. Traum und Mythos spielen eine enorme Rolle in diesem Werk.“ Wie ein Traum ist es für Maxime Pascal auch, erstmals mit den Wiener Philharmonikern zusammenzuarbeiten, die ein Mythos eigenen Ranges sind. „Für mich ist es der Beginn einer neuen Zeitrechnung und zugleich die Fortführung meiner Kindheit, denn ich bin mit diesem Orchester und seiner Klangkultur über Aufnahmen schon immer vertraut gewesen.“
Walter Weidringer
Zuerst erschienen am 20.05.2023 in Die Presse Kultur Spezial: Salzburger Festspiele 2023