Vladimir Sorokin: „Kultur ist keine Hauskatze“

Mit der Dramatisierung von Vladimir Sorokins Roman „Der Schneesturm“ gibt der Regisseur Kirill Serebrennikov heuer sein Salzburg-Debüt: eine wilde Kutschenfahrt in den „hoffnungslosen russischen Winter“ (unter Putin).

© Frol Podlesnyi

Gefragt nach den Dingen, die er an Russland vermisse, nannte der Autor Vladimir Sorokin kürzlich im Interview mit der „Presse“ als Erstes: den Schnee. Seit etlichen Jahren schon hat das einstige „enfant terrible“ der russischen Literatur gemeinsam mit seiner Ehefrau einen Zweitwohnsitz in Berlin-Charlottenburg, seit Beginn des Ukraine-Kriegs lebt er ganz in Deutschland. Wann er wieder in seine Heimat zurückkehren will? „Wenn der Krieg endet.“ Auf Moskau könnte Sorokin offenbar ganz verzichten, er nennt die Stadt „überheblich“ und einen „Staat im Staat“. Umso mehr liebt er das Umland mit seinen Wäldern und Datschen, wo er geboren ist und in den Neunzigern ein Haus gebaut hat.

Die Natur spielt in den Werken des heute 69-Jährigen meist eine wilde Rolle, wie diesem Schriftsteller generell das Wilde liegt. Im Chaos der postsowjetischen Neunziger wurde er zu einem zentralen Vertreter der russischen Postmoderne und einem der international bekanntesten Autoren seiner Heimat, wo aber auch wegen angeblicher Pornografie gegen ihn gehetzt und prozessiert wurde. Einmal etwa spülte eine Jugendorganisation öffentlich Bücher von ihm in einer vor dem Bolschoi-Theater aufgestellten „Toilette“ hinunter.

Nicht nur das Vulgäre und Obszöne, auch das Groteske ist bei ihm allgegenwärtig, in immer neue Extreme auch der Komik gesteigert. Sorokins Bücher sind kulturell und politisch intensiv von seiner Heimat inspiriert – und, man würde es bei diesem Bilderstürmer kaum erwarten, auch von den ihm teuren Klassikern der russischen Literatur: Diese verehrt und zerlegt er zugleich: „Die russische Literatur ist eine Kirche“, sagte er einmal. „Ich gehe mit einer Axt hinein.“

Künstlerisches Adrenalin. In Russland kann sich selbst die Zukunft wie Vergangenheit anfühlen. So mischen sich bei Vladimir Sorokin Archaisches und Science-Fiction-artiges zu retrofuturistischen Fantasiewelten. Sie sind voller Gewalt und zum Teil völlig verrückt anmutender Mystik: Den Hang zum Sakralen wie zum Destruktiven hat der Schriftsteller einmal zentrale Elemente der russischen Mentalität genannt. Russland ist für diesen Autor ein Raum der Albträume, in dem regelmäßig Fürchterliches passiert, der aber zugleich künstlerisches „Adrenalin“ erzeugt. Auch Albträume sind Träume – und Träume inspirieren.

Ein wilder Ritt ist auch Sorokins Roman „Der Schneesturm“, der im August in einer Bühnenfassung bei den Salzburger Festspielen zu sehen ist. Besser gesagt, eine wilde Kutschenfahrt, gespickt mit Anklängen an Autoren wie Puschkin, Leskow oder Tschechow. Doktor Garin, ein Landarzt, ist mit seinem Kutscher Kosma unterwegs zu einem Dorf, in dem eine geheimnisvolle Seuche umgeht. Sie verwandelt Menschen in Zombies, Garin aber will den Dorfbewohnern den rettenden Impfstoff bringen. Die Kutsche wird von 50 Miniaturpferden, nicht größer als Meerschweinchen, gezogen – sie sind vermutlich die berührendsten Bewohner dieser Romanwelt. Auch Riesen und Zwerge begegnen den Reisenden und es gibt einiges (Retro-)Futuristisches wie eine Paste, die Wünsche in Wirklichkeit verwandelt. Ein Schneesturm kommt auf, die Fahrt wird zur Irrfahrt, nimmt apokalyptische Züge an. Am Ende tauchen wie aus dem Nichts Chinesen auf, um alles, was sie finden, an sich zu reißen.

Mit der Dramatisierung dieses Romans gibt der russische Regisseur Kirill Serebrennikov heuer sein Salzburg-Debüt (auch er lebt seit Beginn des Ukraine-Kriegs in Deutschland). In der völligen Orientierungslosigkeit, die die Protagonisten durch die einbrechende Naturgewalt des Schneesturms erfasst, sieht Serebrennikov eine „Metapher für alle Menschen“. Mit solchen metaphorischen Möglichkeiten spielt natürlich auch der Autor Vladimir Sorokin, aber er hat sie schon stark auf Russland gemünzt: Als er den Roman 2009 schrieb, habe er eine Erzählung über den „hoffnungslosen russischen Winter“ schreiben wollen, sagte er – mit Blick auf die politischen Zustände unter Putin.

Zugleich aber ist sein wütender Schneesturm auch einfach ein wütender Schneesturm. Ein solcher gehört zur russischen Realität; Sorokins Großvater etwa überlebte einen nur mit viel Glück. Sorokin hat aus dieser Naturgewalt geradezu eine Hauptfigur seines Romans gemacht. Es kann also visuell sehr eindrucksvoll werden, wenn auf der Perner-Insel Hallein im heißen August auf der Bühne der russische Winter Einzug hält.

Generell enthält „Der Schneesturm“ viel weniger direkte politische Bezüge als so manches andere Werk dieses Autors; viel weniger etwa als Sorokins späterer Roman „Doktor Garin“, der 2024 auf Deutsch erschienen ist. Darin leitet der Arzt (man sieht, er hat den Schneesturm überlebt) eine psychiatrische Klinik im Altaigebirge. Prominente gegenwärtige und ehemalige Staatschefs werden dort mit ihren schwierigen Neurosen behandelt, von Wladimir und Donald über Angela und Emmanuel und Silvio bis hin zu Boris und Justin. Was sie alle verbindet, ist eine seltsame Körperform: Sie haben (außer Armen) nur ein Hinterteil, mit dem sie alles tun: essen, denken, reden etc. Doktor Garin bemüht sich auch in diesem Roman, die Zombifizierung der Welt zu verhindern, muss jedoch aufgrund einer Atombombe auf riesigen Biorobotern mit seinen Patienten fliehen. „Schneesturm“ und „Doktor Garin“ bilden gemeinsam mit Sorokins jüngstem Roman, auf Russisch „nasledje“ („Das Erbe“), eine Trilogie. Letzterer ist noch nicht in Übersetzung erschienen, in Russland wurde er 2024 kurz nach seinem Erscheinen durch eine Behörden-„Empfehlung“ de facto verboten.

Fällt es Vladimir Sorokin seit Kriegsbeginn schwerer, zu schreiben? Nein, sagt er im Interview mit der „Presse“: Er arbeite unverändert mit „meinem eigenen Sehgerät, es steht mit einem Bein in der Vergangenheit, mit dem anderen in der Zukunft und erzeugt so ein Hologramm: die Gegenwart“. Weder inhaltlich noch stilistisch lässt sich dieser Autor zähmen, zum Glück. Denn auch das lernen wir bei Sorokin: „Kultur ist keine Hauskatze.“

Text: Anne-Catherine Simon
Zuerst erschienen am 31.05.2025 in Die Presse Kultur Spezial: Salzburger Festspiele

Videos

9. Dezember 2024
Der Schneesturm | Salzburger Festspiele 2025 – Statement Kirill Serebrennikow
18. Juni 2025
Der Schneesturm | Salzburger Festspiele 2025 – Erster Einblick
Der Schneesturm | Salzburger Festspiele 2025 – Statement Kirill Serebrennikow
Der Schneesturm | Salzburger Festspiele 2025 – Erster Einblick