Schock und Düsternis vor der Revolution
Der russische Autor Leonid Andrejew ließ kaum einen kalt. Die Theaterproduktion „LePassé“ macht aus seinem Werk das Panoramaeiner untergehenden Gesellschaft.


Lange Zeit hat der 1987 geborene französische Regisseur Julien Gosselin mit seiner Theatertruppe „Si vous pouviez lécher mon coeur“ („Wenn Sie mein Herz lecken könnten“) rein Zeitgenössisches auf die Bühne gebracht; etwa Michel Houellebecqs „Elementarteilchen“, Roberto Bolanos „2666“ oder eine Trilogie nach Don DeLillo. Das hat sich geändert, in den letzten Jahren gab es etwa eine Thomas-Bernhard und sogar eine Schnitzler-Produktion. Aber eingeleitet wurde diese historische Wende von einem anderen Autor, einem russischen: Leonid Andrejew. Ein Autor, der Gosselin, so erzählt er, einen regelrechten „Schock“ versetzt habe, „zum ersten Mal fühlte ich eine menschliche Nähe zu einem längst verstorbenen Autor“. Aus fünf Texten dieses Autors hat Gosselin „Le Passé“ („Die Vergangenheit“) geschmiedet, das ab Ende Juli bei den Salzburger Festspielen aufgeführt wird. Es ist ein Gastspiel des Odéon – Théâtre de l‘Europe, dessen Direktor Julien Gosselin seit Kurzem ist.

In Extremen. Im Westen ist der Name Leonid Andrejew bis heute wenig bekannt – obwohl der Autor in der literarischen Szene Russlands Anfang des 20. Jahrhunderts zeitweise geradezu ein Star war. Der Sohn eines Landvermessers und der Tochter eines verarmten polnischen Gutsbesitzers lebte und schrieb in Extremen. Als Jugendlicher ließ er sich von einem Zug überfahren (und überstand es unbeschadet), er unternahm mehrere Selbstmordversuche. Ein auch von Schopenhauer beeinflusstes düsteres Weltbild prägten sein Leben und sein Werk. Er war ein Freund Maxim Gorkis, dessen Theaterstück „Kinder der Sonne“ aus einem Stück Andrejews („Zu den Sternen“) entwickelt ist. Wie so viele Künstler sympathisierte er mit der frühen revolutionären Bewegung gegen das Zarenreich, verließ aber als entschiedener Gegner der Bolschewiken nach deren Machtergreifung Russland. Schließlich ließ er sich in Finnland nieder (wo er bis zu seinem Tod 1919 blieb) und appellierte in einem Text mit dem Titel „S.O.S“ an Europa, gemeinsam die Bolschewiken zu bekämpfen. In seinen besten Erzählungen erinnert er an Leo Tolstoi.
Julien Gosselin findet in dessen Werk „Wörter, die einen völlig in ihren Bann schlagen – so als könnte man mit wenigen Worten an das eigentliche Herz des Schmerzes und der Schönheit der Welt rühren“. Kalt lassen Andrejews Erzählungen und Theaterstücke wohl die wenigsten: Sie sind voller Schockeffekte (die Erzählung „Er“ etwa kann man als erste Horrorgeschichte der russischen Literatur sehen), voller Gewalt und auch sexuell explizit: Die Vergewaltigungsgeschichte „Der Abgrund“ und die Geschichte „Im Nebel“ über einen seinem Sexualtrieb verfallenen jungen Mann machten Andrejew zum Skandalautor.
Diese zwei Erzählungen und eine dritte hat Gosselin in „Le Passé“ eingearbeitet, außerdem ein kleines, reflexives Theaterstück namens „Requiem“, das vom Tod des klassischen Theaters handelt. Im Zentrum der Produktion aber steht Andrejews Stück „ Jekaterina Iwanowna“ über eine russische Femme fatale und die Männer, Künstler und Politiker um sie herum. Es geht um Leidenschaft, besitzergreifende Liebe und Eifersucht in einem vorrevolutionären Russland, deren „bessere Kreise“ von Verzweiflung und Agonie erfasst werden.

Ein Spektakel. In einem fast viereinhalbstündigen Spektakel – auf Französisch mit Übertiteln – wird eine untergehende Gesellschaft vorgeführt. Visuell verspricht das opulent zu werden, mit historischen Kostümen und Requisiten ebenso wie allgegenwärtigen, das Theaterhafte oft dominierenden Filmelementen. Ein „bitterer und ehrlicher Abschied von der Menschheit und ihren Konventionen“ schwebte Gosselin vor. Wie schrieb doch Mark Twain einem Journalisten sinngemäß: „Die Nachricht von meinem Tod ist stark übertrieben.“ Das lässt sich heute wohl auch von der Menschheit sagen.
Text: Anne-Catherine Simon
Zuerst erschienen am 31.05.2025 in Die Presse Kultur Spezial: Salzburger Festspiele