10 Jul 2019

Radikale Liebe, radikale Rachsucht

Simon Stone

"Ich möchte die sozialen Aspekte beleuchten"

In seiner Inszenierung von Cherubinis „Médée“ geht es Simon Stone um ein Seelenpanorama einer extremen Frauenfigur. Thomas Hengelbrock dirigiert die Opéra-comique in der originalen französischen Version. Text: Theresa Steininger

Liebe, die umschlägt in Vernichtung. Ein langer innerer Kampf und schließlich die unvorstellbare Tat – Medea ist eine der grausamsten und eindrucksvollsten Gestalten der griechischen Mythologie. In seinem Hauptwerk Médée schuf Luigi Cherubini auf Basis von Euripides’ und Corneilles’ Dramatisierungen und dem Libretto von François-Benoît Hoffman ein Seelenpanorama in Form einer Opéra-comique, die von Simon Stone und Thomas Hengelbrock bei den Salzburger Festspielen herausgebracht wird.

Sowohl Cherubini als auch dem australischen Regisseur Simon Stone geht es dabei nicht um den Hexenmythos, den viele mit Medea verbinden. Vielmehr klammert Cherubini die magischen und übernatürlichen Aspekte der Figur fast vollständig aus und legt den Fokus darauf, die psychologische Entwicklung einer Frau nachzuvollziehen, die für ihren Geliebten Jason das Vaterland verraten und das Goldene Vlies gestohlen hat. Wenn sie nun in Korinth von diesem zugunsten der Königstochter, die hier Dircé heißt, verlassen wird, beginnt ein innerer Kampf, den Cherubini ausdrucksvoll musikalisch schildert und der schließlich Zuneigung in Rachsucht umschlagen lässt.

Was Regisseur Simon Stone interessiert, ist aber nicht nur der existenzielle Ausnahmezustand, sondern auch der Weg ins scheinbar Unausweichliche, nicht allein die rachsüchtige, sondern auch die flehende, verzweifelte, tief gekränkte Médée: „Mich interessiert nicht die Hexe, sondern die Beschäftigung mit einer Person, die schlussendlich an einen Punkt kommt, an dem sie ihre eigenen Kinder umbringt“, sagt Stone. Er hat sich mit dem Stoff bereits für eine von ihm verfasste, moderne Theaterversion beschäftigt, die den Mythos radikal in die Gegenwart holt. 2014 in Amsterdam uraufgeführt, kam dieses Werk Ende 2018 am Burgtheater heraus.

„Eigentlich ist es eine Horrorgeschichte, die fragt, wie jemand so weit kommen kann, dass er die schlimmste aller vorstellbarer Taten begeht, die ein Mensch begehen kann.“ Stone, der in Salzburg schon mit seiner „Lear“-Inszenierung von 2017 Furore gemacht hat, vergleicht seine „Médée“-Inszenierung mit der Arbeit eines Dokumentarfilmers oder eines Detektivs, der herausfinden möchte, welche Abfolge von Ereignissen zu dieser undenkbaren Handlung führte. „Sie soll auch fragen, wie oft man das Schicksal ändern und die Kinder retten hätte können. Man könnte es meiner Meinung nach auch so sehen: Es ist, nach allem, was Medea zugestoßen ist, komplett logisch, dass all dies passiert – und überraschend, dass es nicht öfter geschieht. Ich möchte die sozialen Aspekte beleuchten und fragen, was dazu führt, dass Leute den Verstand verlieren.“

Diesem Fokus kommt Cherubinis Version im Vergleich zu den zahlreichen anderen Opern, die sich des Medea-Mythos annehmen, entgegen, tritt doch die äußere Handlung hier in den Hintergrund, während der Schwerpunkt auf dem Psychogramm einer extremen Person liegt, die noch dazu fast durchgehend auf der Bühne steht.

Médée als moderne Frau. Auch Thomas Hengelbrock, der die musikalische Leitung innehat, bezeichnet Cherubinis Oper im Interview als „einen ganz eindrücklichen Nachvollzug der psychologischen Entwicklung Médées.“ Deren Zerrissenheit zwischen radikaler Liebe und radikaler Rachsucht für Jasons Verrat findet in der Musik ebenso Niederschlag wie die von Anfang an spürbare Unausweichlichkeit des Geschehens. Hengelbrock findet es legitim, den Hexen-Mythos zu vernachlässigen: „Cherubini beschreibt eine Frau, die die Rolle, die ihr aufgedrängt wird, nicht mehr akzeptiert – und das zu einer Zeit, als die Rolle der Frau generell gerade neu definiert wurde. Dämonisch wird es nur am Schluss, wenn sie laut Libretto davonfliegen soll, aber ansonsten ist Médée als moderne Frau zu sehen.“

Während anfangs musikalisch geschildert wird, in welcher Weise Médée bei der Ankunft in Korinth für sich wirbt, setzt Cherubini mit Fortschreiten der Handlung nach und nach kompositorisch um, dass es keinen Ausweg gibt. Zuerst ist noch jeder Gefühlsregung eine Arie zugeordnet, später geht es um einen raschen Wechsel der Gefühle, so Hengelbrock: „Im dritten Akt geht es sehr, sehr schnell. Es ist geradezu berührend und bestürzend gleichzeitig, wie der Konflikt um die Kinder Médée fast zerreißt – und das wird auch sehr nachdrücklich in Musik umgesetzt.“

Vom Charakter her sind die einzelnen Akte sehr unterschiedlich, der erste steht noch in der Tradition der Nummernoper, während der dritte fast durchkomponiert ist. Steht anfangs noch Glucks Reformoper Pate, so weisen spätere Teile von „Médée“ den Weg in Richtung Romantik. „Natürlich steht Cherubini mit beiden Füßen im Bereich der Klassik, man kann von dieser Zeit kein komplett durchkomponiertes Werk erwarten, selbst wenn dies im Laufe des Stücks mehr und mehr der Fall ist. Er war ja erst wenige Jahre in Paris, als er ,Médée‘ komponierte. Aber die letzte Szene ist 15 Minuten durchkomponierte Musik“, so Hengelbrock. „Ich möchte jedoch nicht über Einteilungen nachdenken, diese sind ja erst später entstanden. Das Stück ist jedenfalls als Meisterwerk seiner Zeit zu sehen.“ Nicht umsonst wurde diese Oper von Brahms, Beethoven, Wagner und Schubert hochgeschätzt.

Im französischen Original. In Salzburg spielt man die französische Fassung, nicht die vor allem durch Maria Callas berühmt gewordene italienische. Cherubinis Originalversion, die 1797 im Théâtre Feydeau in Paris uraufgeführt wurde, wird deshalb als Opéra-comique bezeichnet, weil die einzelnen Musiknummern durch gesprochene Dialoge getrennt sind. Die Dialogpassagen erschwerten die Aufführung der Oper in anderen Ländern. 1855 ersetzte der deutsche Komponist Franz Lachner daher die Dialoge durch neu komponierte Rezitative, die ihrerseits zu Beginn des 20. Jahrhunderts gemeinsam mit Cherubinis Nummern ins Italienische übersetzt wurden.

In eben dieser Version machte Maria Callas die Partie der Medea zu ihrer Paraderolle, die sie durch ihre Ausdrucksfähigkeit und die dramatische Wucht ihrer Stimme somit ins Bewusstsein eines breiten Publikums rückte. Auch Leonie Rysanek (in Wien, Anfang der Siebzigerjahre) und Gwyneth Jones konnten mit dieser Partie reüssieren. In den vergangenen Jahren besinnt man sich nun wieder der originalen Fassung Cherubinis, der zwar aus Italien stammte, aber sich zur Zeit der Komposition der „Médée“ in Paris einen Namen machte.

Kein Vergleich mit der Callas. Für die Salzburger Aufführung im Großen Festspielhaus zieht Thomas Hengelbrock einerseits die neue kritische Ausgabe der Originalfassung heran, die 2006 herausgebracht wurde und das Werk in der Gestalt der Uraufführung zugänglich machte. Andererseits ergänzt Hengelbrock diese selbst um instrumentale Erweiterungen, die Cherubini erst nach der Uraufführung für spätere Produktionen, auch konzertante Teilaufführungen, in Paris, Wien und Brüssel vornahm. Hier hat Hengelbrock auch handschriftliche Ergänzungen des Komponisten, die dieser bereits bestehenden Druckausgaben hinzufügte, berücksichtigt.

„Mit der Version, die Maria Callas sang, hat das wenig zu tun, diese war ja eine nachkomponierte, übersetzte Fassung. Der Vergleich ist daher obsolet“, betont Hengelbrock. Zusätzlich benötige man für Aufführungen im Großen Festspielhaus eine Änderung der Besetzung, fand doch die Uraufführung im Théâtre Feydeau statt. „Der Saal im Théâtre Feydeau ist extrem klein. Für das Große Festspielhaus brauchen wir beispielsweise drei Trompeten und zwei Posaunen, während bei der Uraufführung eine Kammerbesetzung genügte.“

Auf die nachkomponierten Rezitative Lachners, mit denen „Médée“ vorerst berühmt wurde, verzichtet man somit vollständig. „Simon Stone hat aber eine ganz spezielle Idee für den Umgang mit dem gesprochenen Teil der Oper“, versichert Hengelbrock. Auch in seiner Arbeit mit den Sängern wolle er viel Bedacht darauf legen, dass man den Text gut versteht, so Hengelbrock: „Es ist sehr auffällig, dass in einer Zeit, in der das Koloraturwesen seinen Höhepunkt erreicht hatte, Médée sich nicht mit Koloraturen, sondern mit großen melodischen Bögen und mit kurzen, dem Sprachrhythmus abgelauschten Phrasen äußert. Es ist daher ganz wichtig und wird ein Hauptaugenmerk in meiner musikalischen Arbeit mit den Sängern sein, dass man den Text gut versteht.“

Im Vergrößerungsglas betrachtet. Die fordernde Rolle der Médée, die von Zartheit und liebevollem Zureden bis zum blanken Hass unzählige Facetten zu zeigen hat, wird Elena Stikhina anvertraut, die damit als Einspringerin für die ursprünglich avisierte Sonya Yoncheva ihr Salzburger Festspieldebüt gibt. Sie sang zuletzt die Titelrolle in Puccinis „Suor Angelica“ an der Metropolitan Opera New York und gab die Leonora in Verdis „Forza del destino“ an der Semperoper Dresden und an der Pariser Oper, wo sie außerdem in der nächsten Saison Cileas „Adriana Lecouvreur“ und Mimì in Puccinis „Bohème“ singen wird. Ihr zur Seite stehen in Salzburg Pavel Černoch als Jason, Vitalij Kowaljow als Créon und Rosa Feola als Dircé. Unter der Leitung von Thomas Hengelbrock werden die Wiener Philharmoniker die inneren Prozesse der Médée unter dem Vergrößerungsglas erforschen.

Erschienen in „KULTUR Spezial Die Presse Salzburger Festspiele

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