28 Dez 2018

Mit Händel habe ich eine ganz besondere Liebesbeziehung

Pfingstfestspiele 2019

Cecilia Bartoli über "Voci celesti"

„Voci celesti – Himmlische Stimmen“: die Salzburger Festspiele Pfingsten widmen sich unter diesem Titel dem Andenken der großen Kastratenstimmen. Bis heute überstrahlt deren legendäre Kunst die Zeiten und reizt trotz des zugrunde liegenden großen menschlichen Opfers zur Auseinandersetzung mit diesem außergewöhnlichen Phänomen. Lesen Sie mehr darüber im Interview mit Cecilia Bartoli.

Frau Bartoli, bei den Pfingstfestspielen 2019 stellen Sie das Thema Kastraten in den Mittelpunkt – eine fürchterliche Tradition, die über Jahrhunderte gepflegt aber nie in Frage gestellt worden ist. Was hat Sie dazu bewogen, sich heuer dieses Themas und der für Kastratenstimmen geschriebenen Musik anzunehmen?

Das Thema beschäftigt mich seit langem und immer wieder. Vor zehn Jahren habe ich mich ihm mit meiner CD „Sacrificium“ genähert. Schon damals habe ich mir die Frage gestellt, ob man diese außergewöhnlich künstlerischen, ästhetischen und sinnlichen Erlebnisse, die durch große Opfer erwuchsen, überhaupt feiern darf. Ja, ich finde es wichtig, die Geschichte der Kastraten und ihr Leid zur Diskussion zu stellen. Für diese „himmlischen“ Stimmen haben viele der wichtigsten Komponisten des 18. Jahrhunderts Musik von außerordentlicher Schönheit und Leidenschaft geschaffen. Es wäre nicht richtig, ihr Erbe aber genauso ihre Qual zu vergessen.

Gerne kehren Sie zu Georg Friedrich Händel zurück – in Salzburg hörten wir Sie als Cleopatra in Giulio Cesare in Egitto und als Ariodante. In diesem Jahr ist es die Alcina. Was verbindet Sie mit Händel?

Händel hat jede Note mit Liebe und Leidenschaft geschrieben. Aus diesem Grund lassen sich die Menschen auch heute noch von seinen Stücken zutiefst berühren. Er weckt Gefühle in uns und genau dazu ist Musik da. Er schafft es, seine Zuhörer in eine andere, magische Welt zu führen. Ich liebe Händel und ich würde behaupten, dass ich mit ihm eine ganz besondere Liebesbeziehung führe – auch wenn 300 Jahre zwischen uns liegen…

Warum haben Sie die Oper Alcina ausgewählt? Und was gefällt Ihnen an der Rolle der Alcina besonders gut?

Sie ist die verführerische Frau, eine anspruchsvolle Zauberin, eine wütende, brillante, faszinierende Liebende, eine Frau, die großes Glück genießt und an ihrer Liebe verzweifelt leidet, ja deswegen sogar ihre Zauberkräfte verliert. Es ist eine Fahrt durch Höhen und Tiefen, die diese charakterstarke Frau durchmacht. Diese Rolle ist außerordentlich vielfältig und eine der anspruchsvollsten in Händels Werk. Herausragend ist auch die Rolle des Ruggiero. Sie wurde für den Star-Kastraten Giovanni Carestini geschrieben und wird in Salzburg von meinem fantastischen Kollegen, dem Countertenor Philippe Jaroussky interpretiert.
Die ganze Oper Alcina besticht durch ihre Vielfalt. Sie handelt von Magie, Heldentum und Liebesverwirrungen und enthält komische Elemente. Es ist also eine typische barocke Oper, die auf viele Motive aus Ariosts Epos „Orlando furioso“ zurückgreift. Eine wirklich spannende Mischung aus Barock und Epos, mit vielen tollen Inszenierungsmöglichkeiten.

Wir treffen wieder auf einige Bekannte – so hat Damiano Michieletto bereits 2014 bei den Salzburger Festspielen Pfingsten Rossinis La Cenerentola inszeniert, die musikalische Leitung übernimmt Gianluca Capuano, der zuletzt 2017 als Dirigent von Ariodante zu erleben war. Was schätzen Sie an der Zusammenarbeit mit diesen Künstlern?

Es ist immer wieder schön, mit Künstlern zusammenzuarbeiten, die man schon lange und gut kennt. Damiano Michielettos wunderbare Cenerentola, die unser Publikum in Salzburg mit soviel Enthusiasmus aufnahm, enthielt ja einige „magische“ Elemente. Ich bin sehr gespannt, wie er diese Zauber-Momente auf eine Barockoper anwenden wird. Auf jeden Fall hat Michieletto die Phantasie, die ein solches Werk benötigt. Und mit Gianluca Capuano und den „Musiciens du Prince – Monaco“ an unserer Seite kann man sich wieder auf eine exzellente und originalgetreue Interpretation der Musik auf historischen Instrumenten freuen. Es unterstützen mich auch dieses Jahr wieder einzigartige Musiker.

Zum ersten Mal seit den beiden Uraufführungen im Jahr 1735 setzen Sie Händels Oper in direkten Vergleich zu Nicola Porporas Konkurrenzstück Polifemo. Porpora war Lehrer Farinellis und der Rivale von Händel und Hasse. Gibt es dennoch Gemeinsamkeiten der beiden Komponisten? Und glauben Sie das Publikum wird den Konkurrenzgedanken erneut spüren?

Die Spielzeit 1734/35 in London muss großartig gewesen sein: Nicola Porpora mit der Opera of the Nobility im King’s Theatre, Händel im Konkurrenzunternehmen im neuerbauten Covent Garden – zu viel für den Londoner Musikmarkt. Zwischen Händel und Porpora begann ein regelrechter Wettstreit um die Zuschauerzahlen. Die Konkurrenz zwischen diesen beiden Komponisten war zwar finanziell untragbar, jedoch im Rückblick ein Segen, denn beide sahen sich gezwungen, sich selbst zu übertreffen. Händels Ariodante und Alcina, sowie Porporas Polifemo sind Früchte dieser Rivalität. Grandiose Opern!

Genau wie damals in London, werden wir sie auch hier direkt gegenüberstellen, natürlich konkurrieren wir dabei nicht, sondern ergänzen uns vielmehr. Denn bei beiden Opern handelt es sich um brillante barocke Werke mit virtuosen Solistenparts. Während 1735 Anna Maria Strada zusammen mit Carestini das Händelsche Publikum mit den schwierigsten Arien überzeugte, die Händel je zu Papier gebracht hatte, stand der berühmteste Kastrat jener Zeit, Farinelli, auf der Bühne des King’s Theatre und besang das Publikum angeblich bis zur Ohnmacht. Ich freue mich sehr, dieses einzigartige barocke Erbe nach Salzburg zu bringen und somit zu einer musikalischen Versöhnung der beiden Komponisten beizutragen. (Sie drehen sich bestimmt im Grabe um, würden sie davon wissen…)

Neben Opern und Konzerten erweitern Sie das Programm mit einem Kinofilm und erstmals einem Podiumsgespräch. Warum sind Ihnen diese Ergänzungen so wichtig?

Die klassische Musik und vor allem die Oper vereinen viele Themen: Theater, Literatur, Musik, Geschichte, Sozialkritik, ja sogar Medizin und vieles mehr. Deswegen ist es auch besonders interessant, sie durch verschiedene Brillen zu betrachten. Dieses Jahr wird es daher, neben den zwei Opernproduktionen und den fünf Konzerten, eine Filmvorführung des legendären, farbenprächtigen Musikfilms von Gérard Corbiau „Farinelli il Castrato“ und ein Podiumsgespräch unter der Leitung des Musikkritikers Jürgen Kesting geben. Auf das Podium kommen unter anderem Jochen Kowalski, Musikwissenschaftlerin Corinna Herr und der Arzt Bernhard Richter. Insbesondere im Zusammenhang mit der schwierigen Thematik der Kastraten ist eine Betrachtung dieser Kunst von allen Seiten wichtig.

Wie stellen Sie sich die Stimme eines Kastraten vor? Wir kennen ja heutzutage nur die Aufnahme von Alessandro Moreschi, dem vermutlich letzten Kastraten in der Cappella Sistina, der 1922 in Rom gestorben ist.

Die Praxis verlangte, dass die Jungen früh kastriert wurden und dadurch die hormonelle Umstellung, die zum Stimmbruch führt, verhindert wurde. Ein grausamer Akt – vor allem, wenn man bedenkt, dass tausende Kastraten einer Generation kein geeignetes Talent für eine große Karriere entwickelten. Sie blieben ihr Leben lang verstümmelt, von der Gesellschaft verachtet, verarmten, und fristeten ihr Dasein entweder in Chören oder gerieten in die Prostitution.

Nur wenige machten Karriere, aber diese wurden besonders gut ausgebildet: sie erhielten Unterricht bei den besten Lehrmeistern, und zwar nicht nur bei Gesangslehrern und Komponisten. Sie erhielten eine umfassende Allgemeinbildung, so dass einige Kastraten zu den kultiviertesten Zeitgenossen gehörten – Farinelli wurde später ein mächtiger Minister am Hof des Spanischen Königs.

Diejenigen Kastraten, die als Sänger erfolgreich waren, verfügten über außergewöhnliche musikalische und technische Fähigkeiten: ihre Stimmen mussten ganz besonders flexibel gewesen sein.

Farinelli soll beispielsweise über einen Stimmumfang von über dreieinhalb Oktaven verfügt haben. Dazu verlieh der große Brustkorb den Kastraten ein Atemvolumen, das ihnen wiederum die Möglichkeit gab Töne und Phrasierungen fast unendlich lange zu halten. Die Stimmen der Kastraten hatten auch eine große dynamische Bandbreite und eine reiche Farbpalette. Die Stimmen waren technisch so gut ausgebildet und flexibel, dass wir heute immer wieder staunen über die halsbrecherische Virtuosität der Partituren, die für sie geschrieben wurden.

Doch so schön die Stimmen auch gewesen sein müssen, rechtfertigt es nicht das Leid der unzähligen Knaben und Männer jener Zeit. Die Verstümmelung der Kastraten macht aus dem Barock eines der düstersten Kapitel der Musikgeschichte. Wir hoffen, mit dem Programm die Schönheit und Grausamkeit jener Zeit ins Zentrum der Festspiele rücken zu können. Ich freue mich auf all die Diskussionen, die am Rande der Bühne entstehen werden.

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