Karl Kraus‘ Rede über das Reden vom Krieg
Desinformation, Fantasiemangel und die Verdrängung von Verantwortung in Kriegszeiten: Dušan David Pařízek inszeniert „Die letzten Tage der Menschheit“.


Im Tschechischen gibt es ein schönes Wort: Alibismus. Man würde es sich auch im Deutschen beheimatet wünschen, zumal jeder mit dem Phänomen schon Bekanntschaft geschlossen hat: dem Streben, Verantwortung zu vermeiden, indem man Ausreden benützt oder die Schuld auf die Umstände schiebt.
Der Alibismus, ebenso wie Krieg und Militarismus, ist in den Regiearbeiten des tschechischen Regisseurs Dušan David Parízek immer wieder Thema. 2014 etwa konnte man das bei der Uraufführung des Stücks „Die lächerliche Finsternis“ von Wolfram Lotz am Wiener Akademietheater sehen. Oder 2015 in „Der Fall Švejk“ nach dem Roman von Jaroslav Hašek bei den Wiener Festwochen: Da stellte er das Mitläufertum und die Frage der moralischen Verantwortung des Einzelnen ins Zentrum seiner Interpretation.Den Ersten Weltkrieg und die Frage der Mitverantwortung des Einzelnen thematisierte auch der wie Hašek in Böhmen geborene Karl Kraus, ebenfalls satirisch, aber radikaler: im Stück „Die letzten Tage der Menschheit“. Unter Parízeks Regie wird es bei den Salzburger Festspielen (in Kooperation mit dem Burgtheater) zu sehen sein.
Teilweise, genauer gesagt. Ein „Marstheater“, so Kraus, würde die szenische Aufführung dieses Werks erfordern, das als Reaktion auf den Ersten Weltkrieg entstand. Es hat nicht nur über zweihundert Szenen, sondern auch über tausend Rollen. Auch wenn in mehr als der Hälfte der Szenen Wien der Schauplatz ist (bevorzugt „Ringstraßenkorso. Sirkecke“), spannt sich das Geschehen über ganz Europa und darüber hinaus: von Konstantinopel bis zur Isonzo-Front, vom Vatikan bis zu einer Baracke in Sibirien, von Udine bis in die serbische Stadt Kragujevac.
Bis heute gibt es nur stark reduzierte Versionen. Die erste war 1964 bei den Wiener Festwochen zu sehen, mit Publikumslieblingen wie Otto Schenk, Otto Tausig oder Ernst Stankovski. Legendär wurde Hans Hollmanns siebenstündige Inszenierung 1980, ebenfalls für die Wiener Festwochen, unter anderem mit Helmut Lohner als „Nörgler“ und Peter Weck als „Optimist“. Sie blieb nicht zuletzt
dank der im ORF gezeigten TV-Version im Gedächtnis. In den vergangenen Jahren hat Paulus Manker in einer Industriehalle in Wiener Neustadt eine Version mit 75 Szenen gezeigt. Und immer noch erhältlich ist zum Glück eine viereinhalbstündige Aufnahme der „Letzten Tage“, gelesen von Helmut Qualtinger.

Kammerspiel statt Marstheater? Von den Beteiligten an jener Produktion, die 2014 für das Burgtheater und die Salzburger Festspiele entstand, ist eine Schauspielerin auch heuer wieder dabei: Dörte Lyssewski, die seinerzeit die Rolle der euphorischen Kriegsreporterin Alice Schalek spielte. Ein nur sechsköpfiges Ensemble spielt dieses Mal, allerdings hochkarätig zusammengestellt (Michael Maertens,
Marie-Luise Stockinger, Branko Samarovski, Elisa Plüss, Felix Rech). Kammerspiel statt Marstheater also?
Von einem Kammertheater kommt Parízek jedenfalls her. 1971 in Brünn geboren, studierte er Schauspiel und Regie in Prag, Komparatistik und Theaterwissenschaften in München. Diese deutsch-tschechische Verbindung prägt seitdem auch seine Theaterarbeit. 1998 gründete er das Prager Kammertheater, das sich vor allem Uraufführungen tschechischer Stücke widmete, aber auch tschechischen Erstaufführungen deutschsprachiger Stücke. Und seit über zwei Jahrzehnten inszeniert Parízek regelmäßig an deutschsprachigen Theatern.
Wird in der Aufführung der blutige Alltag des Kriegs im Mittelpunkt stehen, wie wir ihn wieder in unserer Nachbarschaft haben? Wohl eher nicht. „Die letzten Tage der Menschheit“ handelt im Grunde wenig vom Krieg, umso mehr vom Reden darüber. Ja, er ist im Grunde eine Rede über das Reden vom Krieg, geschrieben von einem, der das gegenseitige Abschlachten selbst nur vom Wiener Schreibtisch aus wahrnahm.

Phrasen auf zwei Beinen. Hatte Kraus mehr Fantasie als andere, sich das Kriegsgrauen vorzustellen, oder nur mehr sprachliche Sensibilität? Das propagandistische Phrasendreschen über den Krieg und die damit verbundene Unfähigkeit, sich dessen Realität vorzustellen, ist jedenfalls sein Thema. Pathetische, blutleere Formeln – die Kraus besonders in der „Neuen Freien Presse“, Vorgängerin der heutigen „Presse“, fand – füllen sich dem Autor zufolge mit Blut, indem sie zur mörderischen Tat werden: „Phrasen stehen auf zwei Beinen – Menschen behielten nur eines“ . . . Die Menschheit, so Kraus, werde „von Vorstellungsarmut in den Tod gepeitscht“. Kraus‘ Stück ist damit auch ein Theater über den Krieg als Theater: Krieg, der aus der Distanz wahrgenommen wird, wird wie ein Schauspiel wahrgenommen. Nicht zufällig ist bis heute von „Kriegsschauplätzen“ die Rede.
Im Vorwort seines 1922 beendeten Werks hat Kraus auch die nachträgliche Verdrängung des Kriegs angesprochen: Nicht nur wegen des Umfangs sei das Publikum dem Stück nicht gewachsen, sondern auch, weil diese Jahre, „da Operettenfiguren die Tragödie der Menschheit spielten“, „Blut von ihrem Blute“ sei. Die Menschen würden „vom Krieg nichts mehr wissen wollen“, würden „zwar ertragen, dass er ist, aber nicht, dass er war“.
Die Verdrängung verhängnisvoller Realität, zuerst durch Phrasen, dann durch Schweigen, der Verzicht aufs Selbstdenken, die Abgabe von Verantwortung – da lassen sich unzählige Anknüpfungspunkte zu heute finden. Und das nicht nur, weil wir in unserer Nachbarschaft wieder einen Krieg haben (der freilich mit dem Ersten Weltkrieg nur schwer vergleichbar ist). Und kennen wir nicht auch das Gefühl, das Kraus hatte – dass gegenwärtig in mancher Hinsicht die politische Wirklichkeit mit der Satire um die Wette läuft, die Satire von ihrem eigenen Stoff überholt wird? Karl Kraus nutzte die Technik der Montage, um diesem Problem Herr zu werden: „Die grellsten Erfindungen sind Zitate“, heißt es im Stück. Reale Begebenheiten, Zitate aus Zeitungen, Gesprächsfetzen machen einen beträchtlichen Teil des Stücktextes aus. Doch Kraus kombinierte – und ergänzte– diese Realitätsfetzen auf eine Art und Weise, die den Irrsinn, den er zeigen wollte, in voller Wucht zum Ausdruck brachte.
Text: Anne-Catherine Simon
First published on 31.05.2025 in Die Presse Kultur Spezial: Salzburger Festspiele