25 Mai 2022

Iphigenia – wer bist du?

Heißt das, Iphigenia ist gar kein Opfer? Hat sie es selbst in der Hand, ob sie sich als solches begreift?

Mehr als zwei Jahrtausende Literaturgeschichte zeigen: Die Tochter, Schwester und Priesterin Iphigenie musste viele Erwartungen erfüllen. Doch wer ist diese Frau heute? Wichtiger: Wer will sie sein? Die Autorin Joanna Bednarczyk hat die mythenbehaftete Figur mit dem Stück Iphigenia in die Gegenwart geholt.

Iphigenie, diese Frau fasziniert die Menschen, seitdem der Grieche Euripides im 5. Jahrhundert vor Christus das erste Mal über sie geschrieben hat. Sein Stück „Iphigenie in Aulis“ handelt von der Tochter der Klytämnestra und des mykenischen Königs Agamemnon, die in ihre eigene Opferung einwilligt, nur damit der große Krieg gegen Troja beginnen kann.

Viele Dichter haben sich nach Euripides dem Iphigenie-Stoff gewidmet – Giovanni Boccaccio, Racine, Johann Wolfgang von Goethe, Richard Wagner (in seiner Bearbeitung von Christoph Willibald Glucks Oper „Iphigénie en Aulide“), Gerhard Hauptmann etwa, und jeder von ihnen sah die Figur anders und mit den Augen seiner Zeit. Bei Johann Wolfgang von Goethe steht – anders als bei Euripides – nicht Iphigenies Opferbereitschaft im Vordergrund, sondern ihre humanitäre Gesinnung. Sie erst macht es möglich, die ewige Kette von Rache und Gewalt zu durchbrechen.

Wie aber können wir Iphigenie heute begreifen? Ausgehend von den Stücken von Euripides und Johann Wolfgang von Goethe haben die Autorin Joanna Bednarczyk und die Regisseurin Ewelina Marciniak den Iphigenie-Mythos ins Heute transferiert. Verrat, Missbrauch, weibliche Opferungen, Selbstsucht – all das findet in dem Stück „Iphigenia“ in einem großbürgerlichen Familienkosmos unserer Zeit statt. Klytämnestra ist Künstlerin, Agamemnon Professor für Ethik, Iphigenia die begabte Tochter, die – so will es der Vater – Klavierspielerin werden soll. Das Stück beginnt mit einem Ehedisput. Agamemnon und Klytämnestra streiten sich darüber, wer von beiden wohl mehr Opfer in seinem Leben erbracht hat, und welche Unterschiede es zwischen Opfern einer Frau und jenen eines Mannes gibt. Einig werden sich die beiden nicht.

Grau ist alle Theorie. Der Gelehrte Agamemnon liebt es, sich mit den zentralen Fragen des Lebens zu befassen wie: Was eigentlich ist Moral – und was nicht? Wie moralisch verhält sich Abraham, der nach alttestamentarischer Überlieferung bereit war, seinen eigenen Sohn zu töten, nur weil Gott ihm dieses Opfer befohlen hat? Und welcher Art ist die Beziehung zwischen Opfer und Täter, überlegt sich der Ethikprofessor für eine Vorlesung.

Das zeigt sich, als sich Iphigenia bewusst wird, dass sie von ihrem Onkel Menelaos missbraucht worden ist. Schweren Herzens fasst sie den Entschluss, ihren Eltern zu erzählen, was ihr widerfahren ist. Die Reaktion von Mutter und Vater auf diese schreckliche Nachricht könnte nicht unterschiedlicher sein. Agamemnon will vor allem eines: alles tun, um zu verhindern, dass die Öffentlichkeit etwas von diesem Verbrechen erfährt. Nicht etwa, um seine Tochter zu schützen, nein, als Ethikprofessor fürchtet er um seine eigene Reputation. Deshalb verzichtet er darauf, seinen Bruder Menelaos zur Rechenschaft zu ziehen, lieber verschleiert er dessen Tat: „Agamemnon reagiert ähnlich irrational wie auch schon bei Euripides, wo auch nicht klar ist, warum er sich so verhält. Iphigenie wird damit gleich zum doppelten Opfer. Das erste Mal durch den Missbrauch ihres Onkels, das zweite Mal durch den Verrat des Vaters“, sagt Emilia Heinrich, die Dramaturgin des Stücks. „All das führt zu einer Aufspaltung von Iphigenias Persönlichkeit. Da gibt es das Selbst der jungen Tochter, die sich immer so verhalten will, wie es der Vater von ihr verlangt, und das Selbst der älteren Frau, die im Dialog mit ihrem jüngeren Ich reflektiert, was mit ihr und den Menschen um sie herum passiert ist.“ Eine spannende Konstellation schon an sich, und noch umso mehr, als die junge Iphigenia bei den Salzburger Festspielen von der Schauspielerin Rosa Thormeyer und die ältere von ihrer Mutter Oda Thormeyer gespielt wird.

„Heißt das, Iphigenia ist gar kein Opfer? Hat sie es selbst in der Hand, ob sie sich als solches begreift?“

Doch blicken wir auf Klytämnestra. Wie reagiert sie auf das Unglück ihrer Tochter? Während Agamemnon nur seine eigenen Interessen verfolgt, versucht sie Iphigenia zu helfen, und zwar auf durchaus provokante Weise: Dieser Punkt zwischen deinen Beinen ist nichts Heiliges, und wenn er nicht heilig ist, kannst du auch nicht entweiht werden. Und wenn du nicht entweiht worden bist, kannst du ein ganz normales Leben führen, versucht sie ihrer Tochter einzuschärfen. Heißt das, Iphigenia ist gar kein Opfer? Hat sie es selbst in der Hand, ob sie sich als solches begreift? Oder will ihr die Mutter nur einen Weg zeigen, der lähmenden Ohnmacht zu entkommen? „Es ist mehr ein Appell“, sagt Dramaturgin Heinrich. „Klytämnestra spricht mit all der Verzweiflung einer Mutter, die gerade erfahren hat, dass ihrer Tochter Furchtbares widerfahren ist. Sie will ihr klarmachen, dass sie an diesem Missbrauch nicht zerbrechen muss, sondern daraus stark und selbstbestimmt hervorgehen kann.“ Nur, was sich Klytämnestra für ihre Tochter wünscht, das Leid zu überwinden, schafft sie selbst nicht.

Während sie die Opferung ihrer Tochter nicht verwindet, sucht diese ihren eigenen Weg. Doch weiß sie, wer sie ist, weiß sie, was sie will? „Das ist eine der schwierigsten Fragen überhaupt. Darüber denken wir bei den Proben sehr viel nach. Wüssten wir die Antwort für uns selbst?“, fragt Heinrich. Iphigenia weiß vielleicht nicht, wer sie ist und was sie will, aber sie findet es in der Fassung Joanna Bednarczyks nach und nach heraus: Sie will ihre Liebe zu dem schönen Fußballspieler Achill leben. Sie will ihren Vater Agamemnon bestrafen, darum bricht sie sich die Finger, um nie wieder Klavier spielen zu können. Und sie verlässt ihr Elternhaus. So agiert eine selbstbestimmte Frau, würde man meinen. Doch das Stück böte so viele Perspektiven auf diese Figur, ein Kaleidoskop an Interpretationsmöglichkeiten – allesamt sind sie modern, sagt Heinrich: „Ich hoffe, dass am Ende die Zuschauer ihre eigene Sichtweise finden. Jede Frage, die sich auftut, ist eine Erkenntnis.“

von Judith Hecht
Zuerst erschienen am 25.05.2022 in Die Presse Kultur Spezial: Salzburger Festspiele

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