30 Mrz 2022

Iphigenia
nach Euripides / Racine / Goethe

Der Mythos der Iphigenie erzählt von der archetypischen Erfahrung der Bedrohung des eigenen Lebens – und vom Verlust des Glaubens an dieses Leben. Regisseurin Ewelina Marciniak bringt in einer Bearbeitung des Stoffs durch Joanna Bednarczyk die unterschiedlichen Perspektiven in einer doppelten Iphigenia zusammen.

Die geliebte Tochter des Königs, schon beinahe erwachsen, zu ersten Liebeserfahrungen bereit (Iphigenie in Aulis), wird zu einer gelangweilten, melancholischen Kaplanin, abgeschnitten von ihrer Familie und von der Welt (Iphigenie auf Tauris).

Sie liebt nicht, arbeitet nicht, ist niemandem tiefer verbunden, sie harrt einfach nur aus. Vor dem Messer gerettet, lebt sie und ist dennoch tot. Es kommt selten vor, dass der Übergang von Vitalität und Jugend zu Erstarrung und Hoffnungslosigkeit derart abrupt erfolgt. Dass er sich auf einer Zeitachse in einem prägnanten, einzelnen Punkt konzentriert und keine horizontale Linie – nämlich die der allmählichen Geburt der Verzweiflung – zeichnet. Beim Versuch, die Geschichte der Iphigenie in der Realität von heute wiederzuerzählen, haben wir uns dazu entschlossen, die beiden Zeitperspektiven zusammenzubringen. In die Rolle der Iphigenia schlüpfen zwei Schauspielerinnen, Vertreterinnen zweier Generationen:die jüngere und die ältere Iphigenia.
In meinem Text vermischen sich die Perspektiven so, dass die ältere Iphigenia etwa die Geschichte der jüngeren bezeugt – und umgekehrt.

Das seelische Trauma war eine Entdeckung des 20. Jahrhunderts. Es zeigte sich, dass einzelne Erfahrungen in der Vergangenheit das Leben eines Menschen dermaßen zeichnen können, sodass er für immer daran leidet. Mehr noch, es stellte sich heraus, dass das Trauma keineswegs spektakulär sein muss (auch wenn es häufig so ist). Manchmal wirkt schon eine unauffällige, beinahe unmerkliche Zurückweisung von jenen, die uns lieben, traumatisch. Die Opferung der eigenen Tochter, die der antike Agamemnon vorbereitet, indem er universale Werte (Nation, Staat) über die Familienbeziehungen stellt, wird in unserer heutigen Welt nie so entsetzlich, gewaltig und brutal sein. Doch auch heute opfern wir nahestehende Menschen – Kinder, Partner, Familie – für Karriere, Prestige, die Erfüllung eigener Ambitionen. Oft merken wir nicht einmal, wenn unsere Entscheidungen Menschen verletzen, die wir lieben.

In meiner Deutung des Iphigenie Mythos opfert, ja verrät Agamemnon seine Tochter ganz bewusst, nach reiflicher Überlegung. Sein Antrieb ist im Grunde banal. Für den Agamemnon des Euripides stehen Staat, Militär, Volk auf dem Spiel – für seine zeitgenössische Entsprechung: Reputation, Karriere, das Ansehen des Bruders. Iphigenie erlebt ihren geliebten Vater als einen, der sich entscheidet, nicht auf ihrer Seite zu stehen, der sie allein lässt, weil er fürchtet, sonst keinen Erfolg zu haben. Iphigenie zerbricht in zwei Teile.

Im zweiten, tauridischen Teil des Mythos sehen wir eine ältere Frau, in Apathie versunken. Sie hat keinerlei Hoffnung, dass etwas in ihrem Leben noch Sinn bekommen könnte. Dann taucht der Bruder auf, den sie seit ihrer Kindheit nicht gesehen hat, und führt sie aus ihrer Einsamkeit heraus. In unserer Fassung ist es uns wichtig, den komplizierten Prozess der Befreiung aus der lähmenden, auf dem Trauma gewachsenen Melancholie zu beschreiben.

Dagegen interessieren uns weder der Deus ex Machina noch Orestes als Gamechanger. Tauris ist in unserer Vorstellung ein Sanatorium, in dem sich gebrochene Menschen langsam aus den Ängsten ihrer Vergangenheit herausarbeiten und ihre Zerbrechlichkeit, Sensibilität und Hilflosigkeit gegenüber der Wirklichkeit zu einer Kraft umschmieden, die es ihnen erlaubt, in eben diese Wirklichkeit zurückzufinden.

Nach Euripides / Racine / Goethe IPHIGENIA
In einer Bearbeitung von Joanna Bednarczyk

Uraufführung
Perner-Insel, Hallein
18., 19., 21., 23., 24., 26., 27., 28. August

Koproduktion mit dem Thalia Theater Hamburg

Autorin: Joanna Bednarczyk
Deutsch von Olaf Kühl
Text zuerst erschienen in Festspieljournal 2022, Salzburger Nachrichten

Videos

22. Dezember 2021
Iphigenia | Salzburger Festspiele 2022