2 Mai 2023

Maxime Pascal im Gespräch über die Opernneuproduktion The Greek Passion

Ein Plädoyer für Humanität in einer von Eigennutz und Kälte geprägten Welt

Erstmalig wird im Sommer bei den Salzburger Festspielen Bohuslav Martinůs vieraktige Oper The Greek Passion zu sehen sein. Dem vom Komponisten verfassten Libretto liegt Nikos Kazantzakis’ Roman Christus wird wieder gekreuzigt zugrunde. Die Handlung ist zeitlosaktuell, Bezugspunkte zu gegenwärtigen Geschehnissen sind unverkennbar: Die Bewohnereines griechischen Dorfes feiern Ostern. Im Glauben vereint, erfahren sie von ihrem Priester Grigoris, wer von ihnen als Darsteller für das Passionsspiel im nächsten Jahr ausgewählt wurde. Schon kurze Zeit später durchzieht ein Riss die Gemeinschaft – Auslöser ist die plötzliche Ankunft einer Gruppe von entkräfteten Flüchtlingen, die das wohlhabende Dorf um Hilfe und Asyl bitten.

Das Ereignis lässt die christlichen Werte der Bewohner zum bloßen Lippenbekenntnis schrumpfen oder aber zum wirklichen Antrieb ihres Handelns werden. Die Konflikte zwischen denen, die für, und jenen, die gegen die Flüchtlinge Partei ergreifen, spitzen sich derart zu, dass sich die als Theaterspiel geplante Passionsgeschichte auf tragische Weise in der Wirklichkeit vollzieht. Die Dorfbewohner, die sich für Humanität, Empathie und Hilfsbereitschaft einsetzen – allen voran der Hirte Manolios –, prallen unvermeidlich mit den Machtstrukturen einer saturierten Gesellschaft zusammen, die den Status quo bedroht sieht.

Das Schicksal von Menschen, die ihrer Heimat beraubt wurden, teilte Martinů selbst: Geboren wurde er 1890 im böhmisch-mährischen Grenzland. Als Komponist zunächst Autodidakt, nahm er 1922 Unterricht bei Josef Suk und ging 1923 nach Paris, um bei Albert Roussel zu studieren. Ganze 17 Jahre blieb er in Frankreich und machte sich mit der französischen Musik, ihrer Klarheit, Ordnung und Balance vertraut.
Mitte der zwanziger Jahre kam Martinů in Kontakt u.a. mit der Groupe des Six, dem Jazz und Igor Strawinsky. In den 1930er-Jahren wiederum beeinflusste vor allem der Neoklassizismus Martinůs kompositorisches Schaffen. Nachdem Paris von den Nazis besetzt wurde, flüchtete Martinů zuerst nach Südfrankreich (Aix-en-Provence) und emigrierte von dort aus, unterstützt von Schweizer Freunden, 1941 in die USA. 1952 erhielt er die amerikanische Staatsbürgerschaft.

Zwar wurde Martinů nach dem Krieg als Professor an das Prager Konservatorium berufen, die von Stalin veranlasste Neubildung der Regierung unter kommunistischer Führung verhinderte jedoch seine Rückkehr in die Heimat. 1953 kehrte Martinů nach Europa zurück. Hier ließ er sich in Frankreich nieder, übersiedelte dann aber 1956 in die Schweiz, wo er seine letzten Jahre verbrachte. In seine Heimat kehrte er zeitlebens nie wieder zurück.

„Für Töne und Musik und Liebe zur Heimat ist weder ein Raum noch die größte Entfernung ein Hindernis.“ (Bohuslav Martinů)

Uraufführungen von Bohuslav Martinů bei den Salzburger Festspielen: Sein Orchesterwerk Les Fresques de Piero della Francesca wurde 1956 von den Wiener Philharmonikern unter der Leitung des Widmungsträgers Rafael Kubelík und 1959 sein Nonett für Flöte, Oboe, Klarinette, Fagott, Horn, Violine, Viola, Violoncello und Kontrabass durch das Ensemble Tschechisches Nonett uraufgeführt. Martinůs Werke waren seit 1950 in 19 Konzerten der Salzburger Festspiele zu hören. Die Aufführungsgeschichte im Detail finden Sie im Anhang des Newsletters.

Der Dirigent Maxime Pascal

Der französische Dirigent Maxime Pascal, 1985 geboren, verbrachte seine Jugend in Carcassonne im Süden Frankreichs. 2005 wurde er am Conservatoire National Supérieur de Musique et de Danse in Paris aufgenommen. Bereits während seines Studiums gründete er 2008 mit Künstlerkollegen das Orchester Le Balcon – benannt nach einem Schauspiel von Jean Genet. Bis heute ist er der Künstlerische Leiter dieses Orchesters.

2014 gewann er den Young Conductors Award und trat seither mehrfach bei den Salzburger Festspielen auf, zuletzt mit einer konzertanten Aufführung von Wolfgang Rihms Jakob Lenz, die von der New York Times in die Auswahl der besten Aufführungen des Jahres 2022 aufgenommen wurde. Seine persönliche Vorstellung von Musiktheater fasst Maxime Pascal in dem fiel zusammen, jede Aufführung solle „eine beeindruckende und – im ursprünglichen Sinne des Wortes – radikale Erfahrung für das Publikum sein“. Austausch suchte er mit Künstlern wie Pierre Boulez, Péter Eötvös, Michaël Levinas und Arthur Lavandier.

https://www.salzburgerfestspiele.at/a/maxime-pascal

Im Sommer dirigiert Maxime Pascal erstmals eine szenische Opernproduktion bei den
Salzburger Festspielen: Bohuslav Martinůs The Greek Passion. Die Premiere findet am 13.
August in der Felsenreitschule statt, der drei weitere Aufführungen folgen am 18., 22. und 27. August.

Im Gespräch mit Maxime Pascal

Das Orchester Le Balcon haben Sie schon in jungen Jahren mit Künstlerkollegen gegründet. Wann haben Sie sich entschieden, Dirigent zu werden?

Das war, als ich etwa 21 war. Dirigent zu werden ist aber nichts, wofür ich mich in dem Sinne
gezielt entschieden habe. Ich habe mit der Zeit eher unbewusst erkannt, dass sich mein Leben und Denken in diese Richtung entwickelt. Es gab keinen Moment, in dem ich plötzlich sagte: „Oh, ich möchte Dirigent werden.“ Es spielte sich nicht auf dieser rationalen Ebene ab, es beruhte auf Intuition. Ich wusste nicht, wohin mich dieser Weg führen würde, ich wusste aber genau, dass ich ihn gehen musste.

Diesen Sommer werden Sie erstmals am Pult der Wiener Philharmoniker stehen, und
das in einer Opern-Neuinszenierung. Wie kam es dazu?

Das ist ein Traum, der wahr wird. Ich bin äußerst dankbar, dass Markus Hinterhäuser mir die
Möglichkeit eröffnet hat, The Greek Passion in Salzburg zu dirigieren. Mir ist wichtig, mich in den Dienst der Musik und des Komponisten zu stellen, ebenso wie in den Dienst des Orchesters. Ich sehe meine Aufgabe darin, das Publikum genau das hören zu lassen, was die Intention von Martinů und Kazantzakis war.

Es geht aber nicht nur ums Dienen. Sie müssen auch Führungsqualitäten mitbringen, um Ihre Ideen als Dirigent zu vermitteln. Wie arbeiten Sie generell mit einem Orchester?

Ich versuche, so etwas wie eine lebende Partitur zu sein, in der die Musikerinnen und Musiker lesen können. Sie sollen durch mich erkennen, welche Klangfarben hörbar sein sollen, wie der Klang ausbalanciert sein soll, wohin die harmonische und melodische Entwicklung geht. All das versuche ich zu zeigen, sodass man am Ende, von außerhalb betrachtet, sagen kann: Dieser Dirigent hat eine klare Vorstellung, eine starke Idee. Der Dirigent sollte den Musiker·innen exakt das Wesen des Werks vermitteln – nicht das, wozu er selbst das Werk machen will.

Haben Sie sich zuvor schon näher mit Werken Martinůs befasst? Was fasziniert sie an
The Greek Passion im Besonderen?

In Martinůs Musik gibt es eine große, tiefgründige Empfindsamkeit. Ich kenne die Oper Julietta, eines seiner bekanntesten Werke, sowie einige kammermusikalische Stücke. The Greek Passion ist eine 14. und letzte Oper, ein faszinierendes Werk. Das fängt schon bei der literarischen Vorlage an. Die Oper basiert auf einem Roman von Nikos Kazantzakis, der sich unter anderem mit dem Thema Exil befasst – ein Thema, das wiederum Martinůs Leben durchzieht.
Die Lektüre des Buchs und des Librettos haben mich sehr bewegt. In der Handlung wiederholt sich – in einer anderen Zeit, an einem anderen Ort und mit anderen Menschen – die Passion Christi. Das bedeutet zugleich, dass Christus bei jeder unserer vier Salzburger Aufführungen von The Greek Passion neu auferstehen wird. Der Gedanke der Wiederauferstehung, den Martinů hier zum Ausdruck bringt, prägt die Tätigkeit von uns Musikern generell: Wir spielen und interpretieren immer und immer wieder z.B. diese oder jene Symphonie – man kann darin eine Art Liturgie sehen.
In The Greek Passion werden zwei Gruppen miteinander konfrontiert, es gibt daher zwei Chöre: einerseits die Dorfbewohner, andererseits die Flüchtlinge, denen vor allem Egoismus und Ablehnung entgegenschlägt. Es ist interessant, dass die Gruppe der Dorfbewohner sozusagen auf der Bühne „sesshaft“ ist – sie hat hier ihre Wurzeln. Bei der Gruppe der Flüchtlinge hingegen hat Martinů in der Partitur explizit angegeben, dass sie aus der Ferne ankommen: Man hört den Chor zunächst nur von Weitem, während des Singens bewegt er sich auf die Bühne zu und betritt sie schließlich. Auch im weiteren Verlauf der Handlung bleibt der Chor der Flüchtlinge „beweglich“, und am Schluss der Oper entfernt er sich wieder, bis er nur noch von ganz weit weg zu hören ist. Das hat eine sehr starke Wirkung.

Und dann gibt es noch den Kinderchor …

Richtig. Nachdem sie vom Priester des Dorfes zurückgewiesen wurden, begeben sich die Flüchtlinge auf Einladung von ein paar Bewohnern, die mit ihnen Mitleid haben, auf einen Berg; sie sprechen ausdrücklich davon, dass sie sich dort niederlassen wollen. Und an diesem Punkt hören wir nun den Kinderchor als Symbol für ihre neuen Wurzeln.

Von der Griechischen Passion existieren zwei Versionen, in Salzburg kommt die sogenannte „Zürcher Fassung“ zur Aufführung. Warum diese?

Diese zweite Fassung wurde in erster Linie von Markus Hinterhäuser und Simon Stone ausgewählt. Wir spielen sie allerdings nicht in der deutschen Übersetzung, in der sie 1961 uraufgeführt wurde, sondern im englischen Original. Die Erstfassung hatte Martinů für das Royal Opera House in London konzipiert, wo die Oper letztlich aber abgelehnt wurde. Das Zürcher Opernhaus erklärte sich bereit, das Werk zur Aufführung zu bringen, verlangte aber Änderungen. Martinů hat das Werk daraufhin vollkommen überarbeitet. Die Zürcher Fassung ist stringenter und wirkungsvoller, die Geschichte wird geradliniger erzählt, und die Farben und das „Parfum“ der Partitur sind darin konzentrierter.

Sie haben gerade erwähnt, dass Sie Nikos Kazantzakis’ Roman gelesen haben.
Inspiriert Literatur Sie generell in Bezug auf Musik?

Das ist eine für mich sehr wichtige Frage, denn Literatur ist – auch wenn das für einen Musiker ungewöhnlich sein mag – die Hauptquelle meiner Inspiration. Die meisten Bilder, die ich in Bezug auf Musik entwickle, speisen sich aus Poesie und Literatur. Ich schätze u.a. Hermann Hesse, James Joyce und Jean Genet. Ein sehr wichtiger Autor ist für mich auch Gaston Bachelard, ein französischer Philosoph und Dichter. Er spielt in Frankreich eine bedeutende Rolle und hat einen wesentlichen Beitrag über die Naturelemente in der Kunst geschrieben. Diese Elemente finde ich auch in der Musik wieder. Ich arbeite viel daran, wie der Klang der Musik etwa wie Wasser, wie Luft oder wie Erde hörbar werden kann. In diesem Zusammenhang ist in The Greek Passion noch etwas bemerkenswert: nämlich, wie sonnig, wie lichtdurchflutet die Harmonien sind. Es klingt vielleicht verrückt und ist auch schwer zu beschreiben, aber in den aggressivsten Momenten fühlen wir, wie sonniges, helles Licht die Musik durchdringt. Dieses Phänomen des Lichts lässt sich etwa in der Art und Weise beobachten, wie Martinů für Holzbläser schreibt.

The Greek Passion thematisiert Humanität versus Egoismus. Wie sehen Sie diesen
Gegensatz?

Solange es Vertreibungen und Verfolgungen von Menschen gibt, wird es zu Konflikten wie dem zwischen den Dorfbewohnern und den Flüchtlingen dieser Oper kommen. Im konkreten Fall entsteht der Konflikt, obwohl die beiden Gruppen derselben Religion angehören – beide sind Christen. Ein Teil von ihnen wird bereits verfolgt, der andere (noch) nicht. Es ist grauenhaft, welche Parallelitäten sich in der Gegenwart zeigen. Das Werk ist ein Appell für Humanität und passt genau in unsere Zeit.

Sie werden zum vierten Mal in der Felsenreitschule dirigieren. Wie würden Sie die klanglichen Verhältnisse und die Aura dieser Spielstätte beschreiben?

Dieser Ort ist einzigartig, ich liebe es, in der Felsenreitschule zu dirigieren. Ich werde hier erstmals eine Oper leiten, bisher waren es ausschließlich Konzerte. Interessanterweise war Arthur Honeggers Jeanne d’Arc au bûcher im vergangenen Jahr ebenfalls eine Art Passion, in der die Verfolgung durch eine feindlich gesonnene Menschenmenge thematisiert wird. Besonders sind an der Felsenreitschule auch die materiellen Gegebenheiten des Baus: Die Wände der heutigen Konzertsäle sind meist mit Holz vertäfelt, in der Felsenreitschule treffen wir dagegen – ähnlich wie in einer Kirche – vornehmlich auf Stein. Das Klangbild entspricht zwar nicht demjenigen einer Kirche, dennoch liegt die Felsenreitschule für mich akustisch zwischen Kirche und Konzertsaal. Der Klang ist in jedem Fall einmalig.

Sie werden die Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor und den Salzburger
Festspiele und Theater Kinderchor dirigieren. Erzählen Sie uns über Ihre Arbeitsweise?

Mit Wolfgang Götz und dem Kinderchor habe ich schon letztes Jahr in Jeanne d´Arc sehr gut zusammengearbeitet. Mit dem Leiter der Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor, Huw Rhys James, habe ich mich mehrmals getroffen. Ich werde zunächst mit den einzelnen Chorgruppen und dann mit allen zusammen proben.

Kennen Sie bereits Arbeiten von Regisseur Simon Stone?

Natürlich habe ich seine Salzburger Inszenierung von Aribert Reimanns Lear unter Ingo
Metzmacher gesehen. The Greek Passion ist unsere erste Zusammenarbeit, und die Pläne
und Gespräche mit Simon Stone machen große Lust auf unsere gemeinsame Produktion.