Wie bringt uns das Hirn zum Tanzen?
Welche Rolle das Publikum für ein Tanzstück spielen kann und wie die titelgebenden „Spiegelneuronen“ auf unser Gehirn wirken, hinterfragt Stefan Kaegi von Rimini Protokoll mit Tänzern von Sasha Waltz & Guests.
Ein Experiment möchte er starten: Stefan Kaegi, Regisseur und Teil des Dokumentartheater-Kollektivs Rimini Protokoll, bringt in „Spiegelneuronen“ nicht nur Mitglieder von Sasha Waltz & Guests zum Tanzen. Vielmehr wollen er und die Künstlerinnen und Künstler auch jede und jeden im Publikum dazu verführen, vom Sitzplatz aus ein aktiver Teil der Vorstellung zu werden. Hauptaktionsort soll der Zuschauerraum sein. Was dort passiert, wird von einem Spiegel reflektiert, der die gesamte Bühne einnimmt. Damit möchte der Regisseur, der gemeinsam mit Helgard Haug und Daniel Wetzel unter dem Label Rimini Protokoll für genreaufbrechende Bühnenarbeiten, Interventionen, szenische Installationen und mehr bekannt ist und 2011 mit dem Silbernen Löwen für Theater an der Biennale in Venedig ausgezeichnet wurde, bei dieser Salzburger Uraufführung auch eine Art Forschung betreiben. Denn es geht ihm um die Frage, ob sich eine Zuschauergruppe durch Bewegungsimpulse ähnlich vernetzen lässt wie unser Gehirn. Was wiederum den Titel der Uraufführungsproduktion erklärt.
Kaegi, so sagt er, beschäftige sich schon länger mit Neurowissenschaften und damit, „was Impulse anderer in Menschen auslösen und welche Faktoren im Hirn zusammenarbeiten, damit unser Körper etwas tut – ob das nun ein kleiner Move ist oder große Bewegungen sind. Die Bewegung wird zum direkten Indikator auf das, was in unserem Hirn abläuft.“ So lässt er nun für „Spiegelneuronen“ auch Erkenntnisse von Gehirnforschern und -forscherinnen in eine Tonspur einarbeiten, die während der Vorstellung zu hören ist. Diese wird aber keine gesprochenen Anordnungen oder Aufforderungen an das Publikum enthalten, sondern vielmehr auch über Neurowissenschaften informieren. Etwa über die Theorie, wonach Spiegelneuronen dazu führen, dass unser Hirn ähnlich angeregt wird, ob wir nun selbst etwas tun oder es bei anderen beobachten. „In diesen Aufzeichnungen geht es beispielsweise um Fragen der Wahrnehmung und des freien Willens, aber auch um Computertechnologie, künstliche Intelligenz und Robotik“, beschreibt Kaegi. Er hat sich zur Vorbereitung unter anderem mit einem Projekt auseinandergesetzt, bei dem Forscher versucht haben, das Gehirn zu kartografieren und genauer herauszufinden, welche Vorgänge im Gehirn wann vor sich gehen und wie sie vernetzt sind.
In „Spiegelneuronen“ will Kaegi ausprobieren, wann – ähnlich wie in einem Vogelschwarm – Bewegungen übernommen werden, die jemand sieht: „Wenn einer losrennt, rennen die anderen hinterher oder nicht? Inwiefern sind wir fähig, auf andere zu reagieren, hinterfragen und zweifeln wir aber auch?“, fragt der Regisseur. „Bei bisherigen Proben hatten wir schnell das Gefühl, im Spiegel etwas zu sehen, das den Bewegungen von Wasserpflanzen an Korallenriffen gleicht. Das war wunderschön anzuschauen.“
Gemeinschaft werden. Für seine Uraufführungsproduktion arbeitet Kaegi zum ersten Mal mit Profi-Tänzern der seit 30 Jahren den Tanz in Deutschland – und darüber hinaus – revolutionierenden Kompanie Sasha Waltz & Guests. Dennoch sei es diesmal „nicht vorrangig, dass Einzelne für ihr Können bewundert werden, sondern es geht um die Frage, wie man einen ganzen Raum voll Leuten in Bewegung versetzen kann“, sagt Kaegi. Tanz werde dabei ein weit geöffnetes Feld: „Auch kleine Bewegungen, zu denen sich jemand durch Impulse bringen lässt, können hier Tanz sein.“ Sasha Waltz & Guests und Rimini Protokoll kommen aus sehr unterschiedlichen Richtungen. Was sie jedoch verbindet, ist das Interesse an ungewöhnlichen Bespielungen von Räumen und an interdisziplinärer Arbeit. Insgesamt geht es Kaegi um ein „großes Bild, das im Spiegel entsteht und zu dem jeder im Publikum beiträgt.“ Wenn jemand dabei auch an den Selfie-Trend unserer Zeit erinnert wird, so habe das durchaus seine Berechtigung. Vor allem aber gehe es ihm um die Frage, „warum es emotional berührt, wenn man Teil des Ganzen wird.“
Theresa Steininger
Zuerst erschienen am 11.05.2024 in Die Presse Kultur Spezial: Salzburger Festspiele