Drei Schwestern
Evgeny Titovs erste Salzburger Operninszenierung gilt einem unbestrittenen Höhepunkt des zeitgenössischen Musiktheaters: Für seine Oper Drei Schwestern nach Tschechow schrieb Peter Eötvös emotional fesselnde Musik, die von 13 Solisten mit dem Klangforum Wien Orchestra unter Maxime Pascal zum Klingen gebracht wird.

„Meine Musik ist Theatermusik“, hielt der ungarische Komponist Peter Eötvös 1994 in einem Interview fest – zu einem Zeitpunkt, als er mit Ausnahme von zwei kurzen, experimentellen Kammeropern aus den frühen 1970ern noch kein Bühnenwerk geschrieben hatte. Die Äußerung verrät, wie stark szenisch-dramatische Bezüge auch seine Instrumentalstücke prägten, wie wichtig ihm die gestische oder dialogische Behandlung der Musik war. Die 1995 begonnene Arbeit an Drei Schwestern, seiner ersten abendfüllenden Oper, führte Eötvös somit auf Neuland, für das er im Grunde prädestiniert war. Die Lyoner Uraufführung 1998 bedeutete seinen internationalen Durchbruch als Opernkomponist. Das Werk behauptete sich erfolgreich in den Spielplänen, und das Genre ließ Eötvös nicht mehr los: Bis zu seinem Tod im März 2024 schuf er neun weitere Opern.
Die „größte Tugend der Oper“ bestand für Eötvös darin, „eine tiefinnerliche Identifizierung mit den Figuren zu ermöglichen“. Seine Musik beschrieb er demgemäß als „eine Musik, die stets den Dialog mit den Zuschauern sucht und eine emotionale Reaktion bei ihnen auslösen will“. Drei Schwestern beweist, dass dieser Anspruch eine neuartige Erzählweise keineswegs ausschloss. Statt der linearen Chronologie von Tschechows Schauspiel zu folgen, gliederte Eötvös das Libretto in drei „Sequenzen“, die jeweils eine andere Hauptfigur in den Fokus nehmen: die beiden jüngeren Prosorow-Schwestern Irina und Mascha sowie (in der mittleren Sequenz) deren Bruder Andrej. Drei Mal verfolgen wir, immer wieder von vorne, den Lauf der Ereignisse – aber eben aus ganz unterschiedlichen Perspektiven, als zutiefst persönliche Erfahrungen. Eötvös hat den Epilog von Tschechows Stück als Prolog an den Beginn der Oper gerückt; der Regisseur Evgeny Titov versteht die drei Sequenzen daher als Erinnerungen: „Diese Figuren stehen am Ende, ihr Leben scheint vergangen, und Fragen steigen in ihnen auf: Was war das eigentlich? Warum müssen wir so viel leiden? Wozu das Ganze?“
Die Frage nach einem erfüllten Dasein thematisiert Drei Schwestern anhand von Menschen, die von einer solchen Existenz weit entfernt sind: Die Prosorow-Familie und die in ihrer Provinzstadt stationierten Soldaten werden fast alle vom Gefühl der Leere, von Unzufriedenheit, Schmerz, Einsamkeit und Stillstand beherrscht. „Das Stück verdeutlicht die Kluft zwischen dem, was wir uns wünschen, und dem, was tatsächlich geschieht“, so Titov, „die Kluft zwischen Hoffnung und Wirklichkeit – bis vielleicht auch die Hoffnung schwindet und der Resignation Platz macht.“
Es entspricht Eötvös’ Selbstverständnis als Musikdramatiker, dass er „das Ziel aller im Stück angewandten musikalischen Mittel“ darin sah, „das Drama zur Geltung zu bringen“. Das gilt auch für die Klangfarbe: Jeder Figur ist ein bestimmtes Instrument zugeordnet – Irina etwa die Oboe, Mascha die Klarinette und Olga die Flöte. Diese Instrumente sind Bestandteil des 18-köpfigen Ensembles im Orchestergraben, das die Charaktere und die persönlichen Beziehungen schildert; ein zusätzliches Orchester hinter der Bühne ermöglicht kraftvollere klangliche Effekte wie für die Szene der Feuersbrunst, die zerstörerisch um sich greift. Der Einfluss des japanischen Theaters trug zu Eötvös’ ungewöhnlicher Entscheidung bei, auch die Frauenrollen mit männlichen Sängern zu besetzen: Er fühlte, dass er durch die geschlechtsneutralen Countertenor-Stimmen der drei Schwestern – durch ein Element von Abstraktion – die Möglichkeiten für eine Identifizierung nicht einschränkte, sondern im Gegenteil vergrößerte. So macht Eötvös ganz unmittelbar erlebbar, was ihn an Tschechows Schauspiel so beeindruckte: „Jede Figur trägt eine unermessliche, nahezu unergründliche innere Welt in sich.“
Christian Arseni
Zuerst erschienen in der Festspielbeilage der Salzburger Nachrichten