13 Jul 2019

Mensch und Maschine

Kornél Mundruczó

"Maschinen, aber auch Sehnsüchte sind in Liliom wichtig"

Maschinen, aber auch Sehnsüchte sind für Regisseur Kornél Mundruczó in „Liliom“ wichtig. Unergründlich findet Schauspielerin Maja Schöne die Julie. Text: Barbara Petsch

Der als Provokateur bekannte ungarische Regisseur Kornél Mundruczó gibt sich angesichts des Liliom ungewohnt zahm: „Als ich das Stück von Ferenc Molnár gelesen habe, war ich tief berührt von der obsessiven Sehnsucht, die ich darin spürte. Auf der anderen Seite war ich ein bisschen verlegen, ich dachte, wie kann man einen Charakter wie Liliom in der heutigen Zeit darstellen? Er ist der narzisstische Typ Mann, aber gleichzeitig trotzdem liebenswert. Mein Ehrgeiz ist es, diese Frage von einem weiter gefassten Aspekt zu beantworten: Kann man sich über eine historische Epoche überhaupt eine Meinung bilden – aus der Perspektive einer anderen Zeit?“ Mundruczó wurde 1975 in Gödöllő geboren. Mit seiner 2009 gegründeten Kompanie Proton Theater entwickelt er Koproduktionen mit zahlreichen internationalen Festivals. Für die Wiener Festwochen adaptierte er 2012 J. M. Coetzees Roman „Schande“.

Zuletzt, 2018, zeigte er seine Version von Schuberts „Winterreise“, gemeinsam mit dem Komponisten und Dirigenten Hans Zender. Im „Presse“-Gespräch analysierte er damals, 2018, kurz und prägnant, sowohl die Lage in Ungarn als auch in der Welt: „Ungarn zeigt die gleichen Symptome wie Europa, aber in konzentrierter Form: Rechtspopulismus mit paranoider Politik. Das Ziel ist die Enthumanisierung der Mehrheit, die Humanisierung der Minderheit kann so nicht einmal beginnen. Das ist einer der größten Widersprüche der Gegenwart.“ Mundruczós Annäherung an die „Winterreise“ stand unter dem Motto „Radikale Romantik“, wie er sagte. Das mag auch zum „Liliom“ passen, bei Molnárs „Vorstadtlegende“ bietet sich Verkitschung förmlich an. Man kann sie aber auch als Versuch zweier erwachsener, reifer Menschen, die ihre Erfahrungen gemacht haben, sehen, ernsthaft eine Beziehung einzugehen. Mundruczó, Hauptdarsteller Jörg Pohl und Julie, Maja Schöne, sind in ihren Vierzigern. Das Foto zum neuen Salzburger „Liliom“ ist schon einmal sprechend: Ein Mann im Sprung oder Flug, umgeben von bedrohlichen Roboterarmen, die an Blockbuster wie „Transformers“ erinnern, aber auch aus der Autoindustrie stammen könnten. Das Bühnenbild gestaltet Monika Pormale, die gebürtige Lettin, die auch Filme dreht und bildende Künstlerin ist, hat des öfteren für Alvis Hermanis gearbeitet. Mundruczó selbst will nicht verraten, welche Rolle die Technik in seiner Inszenierung spielen wird. Das soll ja auch eine Überraschung sein.

Allmacht der Technik. Tatsache aber ist, dass bei „Liliom“ Maschinen eine große Rolle spielen, vielleicht auch als zeitlose Anspielung auf die Technik, die den Menschen beeinflusst oder vernichtet. Die meisten der Technologien, die Molnár in seinem 1909 in Budapest uraufgeführten Stück erwähnt, waren damals noch ziemlich neu, sensationell oder unheimlich: Der Zug etwa – nicht nur Peter Rosegger in seiner steirischen Waldheimat graute es vor dem stählernen Ungetüm, Gerhart Hauptmann („Bahnwärter Thiel“) und Ödön von Horváth („Der jüngste Tag“) widmeten sich der verantwortungsvollen Aufgabe des Bahnwärters, dessen Existenz bei einem Fehler zerstört war. Im „Liliom“ warten der Hutschenschleuderer und sein Kumpan, die einen Geldboten ausrauben wollen, auf dem Bahndamm. Liliom träumt von Wien – und Amerika. Der Geldbote kommt übrigens aus einer Lederfabrik. Nach Lilioms Tod muss sich Julie mit ihrer Tochter durch Arbeit in einer Jutefabrik über Wasser halten. Die wichtigsten Maschinen bei der „Vorstadtlegende in sieben Bildern“ stammen allerdings aus der Vergnügungsbranche im weitesten Sinne, vom Karussell, wo die Pferde durch Autos ersetzt werden, über den Klavierautomaten bis zum Fotoatelier.

„Jede Figur berührt in ihrer Tiefe und Verlorenheit. Gleichzeitig ist da immer dieser Witz.“ Maja Schöne spielt die Julie

Vor allem anderen aber geht es in „Liliom“ um die Liebe. Maja Schöne spielt Julie, die fast noch Unbegreiflicheres tut als der fesche Tagedieb und Frauenliebling aus dem Budapester Stadtwäldchen, das dem Wiener Prater vergleichbar war. Julie, die gar nicht heiraten will, verliert ihren Job als Dienstmädchen, weil sie nicht rechtzeitig daheim ist, und sie bleibt standhaft und treu in dieser Variation einer Gretchen-Tragödie. Wie erklärt sich Maja Schöne diese Figur? „Ich war beim wiederholten Lesen von ,Liliom‘ begeistert von den brillant geschriebenen, fein gezeichneten Dialogen. So viele Ebenen, vielschichtig, ambivalent, so viel erahnt Gesagtes im Unausgesprochenen, in der Stille, jede Figur berührend in ihrer Tiefe und Verlorenheit, und gleichzeitig ist da immer dieser Witz, dieses hintergründige Schmunzeln, dieser Humor. Man kann sich oft nicht entscheiden zwischen Lächeln und sich der Melancholie dieser Menschen hingeben. Muss man auch nicht, ich fühlte mich auf merkwürdige Art geborgen in diesem Zwischenzustand der Gefühlswelt.“ Ist es nicht schwierig, für eine emanzipierte Frau von heute, sich in ein Mädchen wie Julie einzufühlen, deren Leben kaum Wahlmöglichkeiten bietet, geschweige denn, dass sie einen Beruf hätte, der ihr Selbstständigkeit oder gar finanzielle Unabhängigkeit ermöglicht? Oder gibt es das auch heute, diese Mädchen, die ihren Weg gehen und sich fast aggressiv entziehen, sobald man sie in ein Schema pressen, provozieren oder heruntermachen will? Schöne: „Julie ist mittendrin in allem, was dieses Stück hat. Diese Figur hat mich sofort angezogen, da sie in gewisser Weise unergründlich ist, ambivalent; auf keinen Fall einzuordnen oder festzulegen. Sie entzieht sich, sie lässt sich in kein Muster pressen, auch in kein Rollenmuster. Sie ist störrisch, rebellisch, geistreich und direkt. Sie beharrt auf ihrem Willen. Sie ist dickköpfig und zartfühlend – und immer erahnt man einen tiefen Schmerz. Letztendlich sind Julie und Liliom ähnlich, zwei Seelenverwandte, zwei Verlorene und einander unbedingt Suchende.“

Beschwerte Liebe. Erkennen die zwei einander? Sie streiten viel. Maja Schöne: „Klar. Sie spiegeln sich ineinander, sie verlieben sich. Und dennoch ist das von Anfang an nie die unbeschwerte, unbefleckte Liebe, diese umweht von der ersten Begegnung etwas Abgründiges, Dunkles. Die zwei müssen zusammenkommen, es gibt nichts dazwischen, aber nur ganz und völlig und mit Haut und Haar, sie ist da radikal in ihrer Gefühlswelt. Sie überrascht, beim Lesen, aber sie überrascht auch immer wieder Liliom in ihrer herausfordernden Art, sich von niemandem, in ein Bild pressen zu lassen. Sie überlässt es den anderen Figuren, über sie zu urteilen, sie zu bewerten. Das passiert im Stück permanent. Julie bleibt bei sich, hält an etwas fest in sich, sie bleibt mit dieser inneren Kraft auf merkwürdige Art unangreifbar obwohl sie sich die ganze Zeit so verletzlich macht, sich offenlegt, sich hineinwirft in das, was man Leben nennt, voller Hingabe.“ Die Beziehung zwischen Liliom und Julie wirkt teilweise vertrackt, immer wieder, wenn es eine Annäherung gibt, folgt gleich darauf die Kehrtwende, er wird grob, sie zieht sich zurück. Schöne: „Ja, die beiden ,funktionieren‘ nicht, so wie vielleicht Marie und Wolf funktionieren, so wie man sich das vorstellt, wie man in einer Beziehung zu funktionieren hat, und wie man sich einrichtet und sich in die jeweilige Rollenfunktion fügt und sich dann auch zufrieden gibt. Nein, das würden Liliom und Julie auch nie wollen, das wäre für beide das Ende. Da ist immer dieser Hunger, dieses Mehr zwischen den Wörtern – und an Grenzen gehen wollen.“ Wahre Liebe? „Was ist das schon, echte Liebe“, überlegt Schöne: „Hinzu kommt noch das Thema der Gewalt. Diese wird durchgehend von den anderen Figuren thematisiert, auch hier ist Julie nicht einzuordnen. Und hier begannen auch meine Schwierigkeiten, die ich mit ihr hatte, daran habe ich mich gerieben. Jedoch nehmen wir dieses Thema in unserer Fassung von Kata Wéber sehr differenziert auf und durchleuchten es von mehreren Seiten, sodass die Komplexität dieses Bereichs nicht verloren geht. Letztendlich ist es jedenfalls Liebe, eine tiefe Verbindung.“

Vom Gretchen zur Serie „Dark“. Maja Schöne wurde 1976 in Stuttgart geboren. Sie studierte an der Westfälischen Schauspielschule in Bochum, nach dem Abschluss war sie am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg engagiert. Dort spielte sie etwa Amalie in Schillers „Räubern“ oder das Gretchen in Jan Bosses „Faust I“-Inszenierung. Abseits ihres aktuellen Engagements am Thalia Theater dreht Schöne auch Filme, zuletzt die Netflixserie „Dark“, die zweite Staffel über eine deutsche Kleinstadt, in der zwei Kinder verschwinden, soll im Juni anlaufen. Für ihre Rolle als Vergewaltigungsopfer in Brigitte Berteles „Der Brand“ erhielt Schöne 2013 auf der Berlinale den Deutschen Schauspielerpreis als beste Hauptdarstellerin. „Liliom“ Jörg Pohl wurde 1976 im Ruhrgebiet geboren, auch er ist am Thalia Theater in Hamburg engagiert, wo er u. a. in der „Dreigroschenoper“ oder in „Hexenjagd“ zu erleben ist.

Erschienen in „KULTUR Spezial Die Presse Salzburger Festspiele

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Fotos

Monika Pormale Bühne
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Maja Schöne Schauspielerin
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Jörg Pohl Schauspieler
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