26 Jun 2024

Neue Formate & Vergessene Stücke

Unter gänzlich verschiedenen Vorzeichen loten drei Projekte im diesjährigen Schauspielprogramm theatrale Formate, neuronale Prozesse und abschweifende Erinnerung aus. Was sie eint, sind kollaborative Techniken, die das Publikum zu Entdeckungsreisen ins Gestern, Heute und Morgen verführen und ins Zentrum des Geschehens rücken.

Zu Untersuchungen des zwischenmenschlichen Miteinanders und einem Experiment am Publikum laden Sasha Waltz & Guests und das Produktionskollektiv Rimini Protokoll in die SZENE Salzburg. Stefan Kaegi, Mitbegründer dieses Theater-Labels, realisiert einen „dokumentarischen Tanzabend“, in dem die Wirkmechanismen der sogenannten „Spiegelneuronen“ untersucht werden.

Diese Nervenzellen im Gehirn sind für das Erkennen von Emotionen mitverantwortlich und sollen Handlung, Wahrnehmung, Empathie befeuern. Im Bühnenexperiment wird ein riesiger Spiegel dazu dienen, das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft mit den Mitteln des Tanzes zu analysieren – ausgehend von den Bewegungsimpulsen der Tänzer ·innen der Compagnie Sasha Waltz. „Das Publikum ist eingeladen, nicht nur Tanz zu beobachten, sondern sich auch selbst zu bewegen, von seinem Sitzplatz aus als aktiver Teil eines gemeinsamen Systems zu agieren, sich selbst als Teil einer Art großen Gehirns zu erleben.“ Rimini Protokoll, das sein Wissen und Können jenseits des Theaters erprobt, entwickelt das Bühnenstück diesmal unter Einbeziehung von Expert·innen und Konzepten aus der Hirnforschung, der Biologie, der Soziologie und der künstlichen Intelligenz.

Dass neue Theaterformate nicht notwendigerweise an ungewöhnliche Orte gebunden sind und durchaus um das Theaterstück als Form per se kreisen können, beweist der „szenische Lesemarathon“ Vergessene Stücke in Kooperation mit der Universität Mozarteum. Anhand von Werken aus drei Jahrhunderten Theatergeschichte mit Fokus auf österreichischer Dramatik ermöglichen der Schweizer Regisseur Zino Wey und der deutsche Autor Simon Strauß die Begegnung mit vergessenen Stoffen und Stimmen. „Es geht um die grundsätzliche Frage, was bedeutet ein Kanon und was könnte ein Konterkanon sein. Was bedeutet es, wenn wir Theaterstücke vergessen – und welche politische, gesellschaftliche, seelische Relevanz liegt in Stücken, die wir vergessen haben“, fragt Simon Strauß. „Das ist aber kein museales Projekt, sondern wir werden Stücke präsentieren, die ins Mark des Zeitgeistes heute hineinstoßen, die eine unglaubliche radikale Wucht entwickeln und uns umtreiben.“ Diskussion, Film, Installation, konzertante Lesung – mit einem außerordentlichen Ensemble rund um Kristof Van Boven, Burghart Klaußner, Dörte Lyssewski, Stefanie Reinsperger u. a. sowie Studierenden der Universität Mozarteum – wollen besondere Momente des gemeinsamen Erlebens schaffen und das Publikum zum Kollaborateur eines großen Ganzen machen. „Wir laden die Leute ein, einen ganzen Tag mit uns zu verbringen, in verschiedenen Räumen und Konstellationen selber zu Entdecker ·innen zu werden!“, sagt Zino Wey.

Als „multidisziplinäre Performance“ beschreibt der deutsche Musiker, Komponist, Autor und Regisseur Heiner Goebbels seine 2018 entstandene Produktion Everything That Happened and Would Happen (basierend auf Texten aus Patrik Ouředníks Europeana), in der Musik, Licht, Performance, Sprache, Objekte und Filme zu einer Installation vereint sind. Die großformatige Arbeit bildet die zerstörerische Geschichte Europas der vergangenen 100 Jahre in einer theatralen Chronik, in einer Landschaft aus Bildern und Klängen ab – beginnend mit dem Ersten Weltkrieg bis hin zu aktuellen Ereignissen. Diese Landschaft, in der sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukünftiges mit den Erinnerungen und Assoziationen des Publikums überlagern, will aktiv erkundet sein!

zuerst erschienen in der Festspielbeilage der Salzburger Nachrichten 2024

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