Mozart suchte sich das Sujet von Idomeneo nicht selbst aus, aber trotzdem gelang ihm ein sehr persönliches, zukunftsweisendes Werk, das in einer nie dagewesenen Verschmelzung von Drama, Dichtkunst, Tanz und Bühneneffekten und mit einem unglaublich reichen Orchestersatz eine überwältigende emotionale Wirkung entfaltet. Einige der wichtigsten Sänger und Orchestermusiker für das Stück hatte Mozart bereits während seines Besuchs in Mannheim kennengelernt, und ganz bewusst machte er aus seiner ungestümen Komposition eine spannende Herausforderung für das fortschrittlichste Orchester Europas und die sagenhaften Ressourcen des Münchner Hoftheaters. Die Uraufführung fand kurz nach Mozarts 25. Geburtstag statt und ließ die arrivierten Kreise in Kunst und Politik aufhorchen, denn hier meldete sich eine neue Stimme, eine neue Generation zu Wort. Das von Mozart angestrebte Gesamtkunstwerk ließ sich allerdings weder bei dieser Premiere noch bei irgendeiner anderen Aufführung zu seinen Lebzeiten realisieren, denn regelmäßig gab es große Kürzungen. Bis heute können wir nur erahnen, wie sich Mozart sein Werk eigentlich vorstellte. Einerseits bezieht er sich auf die großen Tragödienstoffe und den klassischen Stil; gleichzeitig erweist er sich als Anhänger der Aufklärung, der an die Menschen und ihre Fähigkeit zur Problemlösung glaubt. Mutig und unmissverständlich proklamiert das Stück die Gleichheit aller Menschen: Eltern oder Kinder, Könige oder Untertanen, Männer oder Frauen.
Bereits 2017 setzten Teodor Currentzis und Peter Sellars bei den Salzburger Festspielen ein Zeichen mit Mozarts später Oper La clemenza di Tito, die sie als ergreifende Vision interpretierten, wie man über die Kraft der Gerechtigkeit und Versöhnung einen Weg zur Demokratie finden kann. Bei ihrem Idomeneo wird es bei aller Schönheit der Musik erneut um die Wut und Verzweiflung von Geflüchteten gehen, um Gewalt, Traumatisierung, unbefriedete Konflikte und diesmal auch die Zerstörung der Umwelt.
Wie Homer in der Ilias und der Odyssee, Aischylos in der Orestie oder Sophokles in Elektra hinterfragt Mozart in Idomeneo die Grundlagen des Patriarchats und zeigt, dass zur Beendigung jedes Krieges ein ehrlicher und schwieriger Versöhnungsprozess nötig ist und dass man Gefühle wie Hass und Wut ebenso wenig leugnen darf wie seelische Verletzungen, denen man sich stellen muss, damit sie irgendwann heilen können. Die Darstellung einer machthabenden Generation, die die Zukunft ihrer Nachfahren opfert, ist gerade für unsere Zeit äußerst relevant. Der Konflikt der Generationen wird anhand der klassischen Figuren Ilia, Elettra und Idamante ausgetragen. Idomeneo endet mit der gewaltlosen Ablösung eines kriegerischen Königs, der voller Paranoia in geheimer Abgeschlossenheit agierte, durch einen gütigen, freiheitsliebenden Fürsten, der sich um Konsens und Teilhabe bemüht. Im Vorgriff auf die Utopie der Zauberflöte kann man Idomeneo als Initiationsoper lesen: Eine Generation junger Männer und Frauen muss sich den eigenen Ängsten stellen und sowohl vor sich selbst als auch in den Augen der anderen bestehen. Auf diese Weise finden sie zu einer neuen Balance und einem tieferen Verständnis, was sie dazu befähigt, Führungsrollen zu übernehmen.
Das Übernatürliche steht in dieser Oper letztlich für die Natur: Neptun verkörpert das Meer, eine urtümliche Kraft, die sowohl heilen als auch zerstören kann und die Menschen mit harten moralischen Fragen konfrontiert. Es sind die wütenden Meere, die dagegen aufbegehren, dass die Menschen eine größere, kosmische Übereinkunft gebrochen haben. Dieses überwältigende Meisterwerk des ungeduldigen, genialen jungen Mozart stellt unbequeme und drängende Fragen zum Klimawandel und zu seiner Bedeutung für die Meere und Menschen der Welt: Wessen Zukunft zerstören wir, wenn wir Umweltverschmutzung und globale Erwärmung weiter leugnen? Wird eine junge Generation von jenen Älteren geopfert, die ihre Augen vor der Realität verschließen und nicht aktiv werden wollen? Gibt es eine junge Generation, die bereit wäre, die Führung zu übernehmen?
Antonio Cuenca Ruiz
Übersetzung: Eva Reisinger
mehr dazu
weniger anzeigen