Karl Kraus on Speaking of War 2025
Disinformation, a lack of imagination and the denial of responsibility in times of war: Dušan David Pařízek directs Die letzten Tage der Menschheit.


The Czech language has a beautiful word: “alibiism”. One might wish it existed in German or English too, especially as everyone has made encountered the phenomenon it describes: attempts to avoid responsibility by excuses or blaming circumstances.
Like war and militarism, such alibiism has frequently been the subject of productions by the Czech director Dušan David Pařízek. In 2014, for example, it was evident in the world premiere of the play Die lächerliche Finsternis by Wolfram Lotz at Vienna’s Akademietheater. Or in 2015, when the Wiener Festwochen presented Der Fall Švejk, based on the novel by Jaroslav Hašek: there, he focused his interpretation on collaboration and the issue of the individual’s moral responsibility. World War I and the question of the individual’s share of responsibility was also the chosen subject of Karl Kraus, a native of Bohemia like Hašek – his treatment was also satirical, but more radical: Die letzten Tage der Menschheit, or The Last Days of Mankind. Directed by Pařízek, it will be presented at the Salzburg Festival this summer in a version co-produced with the Burgtheater in Vienna.
At least in part. As Kraus himself remarked, a staged production of this work, written in reaction to World War I, would require a “theatre on Mars”. Not only does it include more than two hundred scenes, but also more than a thousand roles. Even if more than half of its scenes are set in Vienna (favouring the location “Ringstraßenkorso, at the Sirk Corner”), the action straddles all of Europe and beyond: from Constantinople to the Isonzo Front, from the Vatican to barracks in Siberia, from Udine to the Serbian town of Kragujevac.
To this day, only heavily abridged versions exist. The first was presented at the Wiener Festwochen in 1964, featuring audience favourites such as Otto Schenk, Otto Tausig and Ernst Stankovski. Hans Hollmann’s 1980 production, lasting seven hours and also conceived for the Wiener Festwochen, became the stuff of legend, with Helmut Lohner as “the Grouch” and Peter Weck as “the Optimist”. It remained in public memory not least because of the ORF’s televised version. During recent years, Paulus Manker presented a version with 75 scenes at a factory building in Vienna’s Neustadt. And fortunately, a four-and-a-half hour reading of the Last Days read by Helmut Qualtinger remains available as an audiobook.

Kammerspiel statt Marstheater? Von den Beteiligten an jener Produktion, die 2014 für das Burgtheater und die Salzburger Festspiele entstand, ist eine Schauspielerin auch heuer wieder dabei: Dörte Lyssewski, die seinerzeit die Rolle der euphorischen Kriegsreporterin Alice Schalek spielte. Ein nur sechsköpfiges Ensemble spielt dieses Mal, allerdings hochkarätig zusammengestellt (Michael Maertens,
Marie-Luise Stockinger, Branko Samarovski, Elisa Plüss, Felix Rech). Kammerspiel statt Marstheater also?
Von einem Kammertheater kommt Parízek jedenfalls her. 1971 in Brünn geboren, studierte er Schauspiel und Regie in Prag, Komparatistik und Theaterwissenschaften in München. Diese deutsch-tschechische Verbindung prägt seitdem auch seine Theaterarbeit. 1998 gründete er das Prager Kammertheater, das sich vor allem Uraufführungen tschechischer Stücke widmete, aber auch tschechischen Erstaufführungen deutschsprachiger Stücke. Und seit über zwei Jahrzehnten inszeniert Parízek regelmäßig an deutschsprachigen Theatern.
Wird in der Aufführung der blutige Alltag des Kriegs im Mittelpunkt stehen, wie wir ihn wieder in unserer Nachbarschaft haben? Wohl eher nicht. „Die letzten Tage der Menschheit“ handelt im Grunde wenig vom Krieg, umso mehr vom Reden darüber. Ja, er ist im Grunde eine Rede über das Reden vom Krieg, geschrieben von einem, der das gegenseitige Abschlachten selbst nur vom Wiener Schreibtisch aus wahrnahm.

Phrasen auf zwei Beinen. Hatte Kraus mehr Fantasie als andere, sich das Kriegsgrauen vorzustellen, oder nur mehr sprachliche Sensibilität? Das propagandistische Phrasendreschen über den Krieg und die damit verbundene Unfähigkeit, sich dessen Realität vorzustellen, ist jedenfalls sein Thema. Pathetische, blutleere Formeln – die Kraus besonders in der „Neuen Freien Presse“, Vorgängerin der heutigen „Presse“, fand – füllen sich dem Autor zufolge mit Blut, indem sie zur mörderischen Tat werden: „Phrasen stehen auf zwei Beinen – Menschen behielten nur eines“ . . . Die Menschheit, so Kraus, werde „von Vorstellungsarmut in den Tod gepeitscht“. Kraus‘ Stück ist damit auch ein Theater über den Krieg als Theater: Krieg, der aus der Distanz wahrgenommen wird, wird wie ein Schauspiel wahrgenommen. Nicht zufällig ist bis heute von „Kriegsschauplätzen“ die Rede.
Im Vorwort seines 1922 beendeten Werks hat Kraus auch die nachträgliche Verdrängung des Kriegs angesprochen: Nicht nur wegen des Umfangs sei das Publikum dem Stück nicht gewachsen, sondern auch, weil diese Jahre, „da Operettenfiguren die Tragödie der Menschheit spielten“, „Blut von ihrem Blute“ sei. Die Menschen würden „vom Krieg nichts mehr wissen wollen“, würden „zwar ertragen, dass er ist, aber nicht, dass er war“.
Die Verdrängung verhängnisvoller Realität, zuerst durch Phrasen, dann durch Schweigen, der Verzicht aufs Selbstdenken, die Abgabe von Verantwortung – da lassen sich unzählige Anknüpfungspunkte zu heute finden. Und das nicht nur, weil wir in unserer Nachbarschaft wieder einen Krieg haben (der freilich mit dem Ersten Weltkrieg nur schwer vergleichbar ist). Und kennen wir nicht auch das Gefühl, das Kraus hatte – dass gegenwärtig in mancher Hinsicht die politische Wirklichkeit mit der Satire um die Wette läuft, die Satire von ihrem eigenen Stoff überholt wird? Karl Kraus nutzte die Technik der Montage, um diesem Problem Herr zu werden: „Die grellsten Erfindungen sind Zitate“, heißt es im Stück. Reale Begebenheiten, Zitate aus Zeitungen, Gesprächsfetzen machen einen beträchtlichen Teil des Stücktextes aus. Doch Kraus kombinierte – und ergänzte– diese Realitätsfetzen auf eine Art und Weise, die den Irrsinn, den er zeigen wollte, in voller Wucht zum Ausdruck brachte.
Text: Anne-Catherine Simon
First published on 31.05.2025 in Die Presse Kultur Spezial: Salzburger Festspiele