Die Sternstunden der Menschheit waren ein Lebensprojekt von Stefan Zweig: 1927 als Sammelband bereits veröffentlichter Texte mit fünf historischen Miniaturen erstmals erschienen und prompt ein Bestseller, fügte er im Laufe der folgenden Jahrzehnte in Neuauflagen und Übersetzungen weitere neun hinzu. Die „Sternstunde“, in der in einem einzigen kurzen Augenblick der Lauf der Welt entscheidend verändert wird, scheint für Zweig ein eigenes Textgenre geworden zu sein, für das er gezielt schrieb, auch wenn sich manche – wie die über Magellan – dann doch zu einem ganzen Roman auswuchs.
Begonnen in den Goldenen Zwanzigern, die Zweig am Salzburger Kapuzinerberg verlebte, geht das Buch mit ihm auf Weltreise. Die englische Ausgabe The Tide of Fortune landet 1940 nicht in den Regalen, die druckfrischen Exemplare laufen mit dem bombardierten Schiff, das sie transportiert, auf Grund. „Nachdem die Welt meiner eigenen Sprache für mich untergegangen ist und meine geistige Heimat Europa sich selber vernichtet“, schreibt Zweig 1942 in seinem Abschiedsbrief am anderen Ende des Planeten, hat er keine Kraft mehr für einen Neuanfang im brasilianischen Exil und sagt der Welt der Lebenden Adieu.
Ob Napoleons Untergang bei Waterloo, Lenins heimliche Rückkehr nach Russland, Scotts knapp verpasste Entdeckung des Südpols oder die schwierige Verlegung eines Telegrafenkabels durch den Atlantik – die Helden der Sternstunden sind stets im richtigen Moment am falschen Ort – oder umgekehrt. Und sie stammen alle aus der westlichen Hemisphäre. Andere Gebiete tauchen – übrigens ebenso wie Frauen – nur als Objekt der Eroberung auf. Aber was Zweig beschreibt, sind auch keineswegs Glanzleistungen – von Händels Messiah und Goethes Marienbader Elegie einmal abgesehen –, sondern meist aus Irrtümern, Starrsinn, Eitelkeit geboren oder weil Zufall und Chaos ihr Übriges getan haben. Dem Wirken der porträtierten Männer steht neben Zweigs durchaus kritischer Stimme stets „die größte Dichterin und Darstellerin aller Zeiten“ gegenüber, die Geschichte selbst, und den entscheidenden Sekunden „Millionen müßige Weltstunden“, wie er im Vorwort schreibt.
In der musiktheatralen Bearbeitung treffen Zweigs Beschwörungen eines verschwundenen Europas auf südamerikanische Volksmusik. Das könnte so gehen: Stefan Zweig in seinem Sterbezimmer. Umsorgt von einer Schar hilfreicher Gespenster – sind es Pfleger·innen oder Erinnerungen aus der Vergangenheit? – liegt er im Bett und wartet, bis das Gift wirkt. In seinem Kopf – und im Gehörgang des Publikums – schwirren noch einmal die Mythen der „Welt von Gestern“, geflüstert von diversen halbrealen Gestalten, Besucher·innen, echt und eingebildet. Vor dem Fenster geht ein kleines Blasmusikensemble musizierend im Kreis, ums Bühnenbild, ums Theater, und erzeugt so ein vielschichtiges Hör-Bild. Als hätte jemand das Fenster offen gelassen, mischen sich seine letzten Gedanken mit der brasilianischen Straßenatmosphäre, hergestellt vom bayerisch-portugiesischen Heimatlosenorchester München–Rio–Addio. Zweigs wortreiche Beschwörungen von Pioniergeist und Heldenhaftigkeit seiner Entdecker, Dichter, Denker und Generäle werden von der Saudade umweht – einer spezifisch portugiesischen Form des Weltschmerzes, der sich mit „Traurigkeit“, „Wehmut“, „Sehnsucht“, „Heim- oder Fernweh“ oder „sanfte Melancholie“ nur annähernd übersetzen lässt.
Nach dem Vorbild von Charles Ives’ vertikaler Komposition werden die Klänge und Sprachfragmente wie letzte Hemden im Überseekoffer übereinandergelegt. Für jeden Sitzplatz im Theater entsteht so ein individuelles Hörerlebnis, in dem das Kleine mit dem Großen verbunden ist und jedes horchende Subjekt mit dem größeren Ganzen – so wie in Zweigs Erzählungen die kleinen Einzelschicksale mit dem großen Weltgetriebe.
Thom Luz & Katrin Michaels
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