13 Dez 2021

Nachruf Gertraud Jesserer

„Gertraud Jesserer war eine Meisterin der leisen Töne, die auch kleineren Rollen großes Gewicht verleihen konnte. Mit ihrer unvergleichlichen Ausstrahlung schaffte sie es immer wieder mit einem einzigen Satz eine ganze Szene zu spielen“, drückte Festspielpräsidentin Helga Rabl-Stadler ihre Trauer um den Tod der großen österreichischen Charakterdarstellerin aus.

Ihr Festspieldebüt feierte Gertraud Jesserer, die bereits mit 15 Jahren für eine erste kleine Filmrolle vor der Kamera stand und ab 1960 an den Wiener Bühnen Karriere machte, 1987 in Jürgen Flimms legendärer Inszenierung von Ferdinand Raimunds Der Bauer als Millionär. In der Rolle der Zufriedenheit begeisterte sie Publikum und Kritik: „Gertraud Jesserer zeigt“, so Nobert Tschulik in der „Wiener Zeitung“, „dass die Zufriedenheit nicht zuletzt auch herzlich, spontan lachen kann. Sie lässt aber auch die Poesie nicht vermissen, die in ihren Empfindungen und in der Weisheit ihrer Worte steckt. Die Szene, in der Lottchen zur Zufriedenheit kommt, wird so, wie es gebührt, zu einer Szene von stiller, feiner Großartigkeit.“

Zwei Jahre später zeigte sie eindrucksvoll die Vielschichtigkeit der Frau von Erbsenstein in Nestroys Mädl aus der Vorstadt. „Jesserer spielt nicht nur das Marschallinnen-Schicksal der älteren Frau, die den jungen Geliebten verliert, sie bringt mehr: Die kluge Frau, die versucht, die Turbulenzen in den Griff zu bekommen, die sympathische Frau zuletzt, die den Schnoferl nicht nur nimmt, weil kein anderer übriggeblieben ist, sondern weil sie ihn als den Besten erkannt hat. Das Zusammenspiel Jesserer-Schenk hat nicht nur hinreißende, sondern auch berührende Momente“, bemerkte Renate Wagner in den „Vorarlberger Nachrichten“.

Die feinfühlige Schauspielerin überzeugte immer wieder mit kraftvollen Figuren und erwarb sich im Lauf der Jahre redlich den Verlust des Vornamens. 1990 war „die Jesserer“ als Crescene an der Seite von Karlheinz Hackl in Hugo von Hofmannsthals Der Schwierige zu sehen.

„Sie ist eine Frau voller Zauber, die Empfindungen in ihre Rollen zu legen vermag – Angst, Staunen, Glück“, streute ihr 2015 anlässlich einer Preisverleihung der Autor Michael Horowitz Rosen.

Ihre Darstellung des Glaubens im Jedermann bewegte 1995 selbst jene, die zunächst nur als „Zuschauer“ zu einer vermeintlich folkloristischen Veranstaltung gingen und die dann als „Betroffene“ das ewig gültige Spektakel am Domplatz verließen. Angetan mit Brustharnisch und schwertumgürtet, führte sie mit sanfter Bestimmtheit Jedermann Gert Voss zur inneren Einkehr.

Zuletzt stand Gertraud Jesserer 1997, wiederum mit ihrem „Bühnen-Lebenspartner“ Otto Schenk, als Sophie in Raimunds Zaubermärchen Der Alpenkönig und der Menschenfeind auf der Festspielbühne.

„Mit Gertraud Jesserer verliert die Theaterwelt eine große Schauspielerin, die in unzähligen Facetten glänzen konnte. Einer ihrer ersten Filme als Teenager, bei dem sie mit Romy Schneider vor der Kamera stand, hieß Die Halbzarte und dieser Titel beschreibt ihr künstlerisches Wesen auf der Bühne und im Film und Fernsehen sehr genau. In den Werken von Schnitzler, Horvath bis zu Wedekind, Shakespeare und unzähligen anderen, konnte sie ihre Kraft, gepaart mit einer wunderbaren Zartheit und einem unbestechlichem Humor, auf der Bühne ganz zur Entfaltung bringen.“, so Schauspielchefin Bettina Hering.

Am 9. Dezember 2021 kam Gertraud Jesserer kurz vor ihrem 78. Geburtstag bei einem Wohnungsbrand in Wien ums Leben.