Eine leere Wohnung, aufgebrochen von der Polizei. Hinter einer mit Klebeband luftdicht verschlossenen Tür der tote Körper einer alten Frau. Rückblende: Anne und Georges sind ein älteres Ehepaar mitten im Leben. Jenseits der 70 genießen sie einen erfüllten Ruhestand in einer großzügigen Altbauwohnung; Konzertbesuche und Treffen mit Freunden prägen den Alltag — bis Anne plötzlich einen Schlaganfall erleidet. Zunächst beginnt ihr Mann, sich aufopferungsvoll um sie zu kümmern. Beide versuchen, sich mit der neuen Situation zu arrangieren. Zunehmend jedoch schottet sich das Paar von der Außenwelt ab. Als sich ihr Zustand verschlechtert, bittet Anne ihren Mann um Hilfe. Für Georges geraten alle fragilen Gewissheiten ins Wanken.
Michael Haneke seziert in starren Einstellungen, mit kaltem Blick die letzten Tage eines Ehepaares und fragt danach, wie mit dem Leiden eines geliebten Menschen fertig zu werden ist. Mit der ihm eigenen kühlen Unparteilichkeit porträtiert er seine Figuren, erlaubt uns, sie zu erleben, ohne sie zu erklären. Er wisse selbst nicht mehr über seine Figuren als das Drehbuch, sagte Haneke einmal über Liebe. Und so untersucht er, wie Krankheit und Pflegebedürftigkeit in eine bürgerliche Familie einbrechen, und konfrontiert uns Zuschauende mit einem Lebensende zwischen Liebe und Gewalt, zwischen Mord und Sterbehilfe.
Der österreichische Regisseur Michael Haneke, geboren 1942 in München, gilt als einer der wichtigsten Autorenfilmer Europas. Durch sein filmisches Werk zieht sich, wie der Filmtheoretiker Georg Seeßlen schrieb, die „innere Vergletscherung — der Analphabetismus der Gefühle“ und mithin die Frage, wie die Gewalt unter der Fassade bürgerlicher Existenzen brodelt. Viele seiner Arbeiten wie Funny Games (1997), Caché (2005) oder Das weiße Band (2009) waren Welterfolge. Seit seinem ersten Kinofilm, Der siebente Kontinent von 1989, in dem sich eine ganze Familie kollektiv das Leben nimmt, interessiert sich Haneke, inspiriert auch durch Erlebnisse in der eigenen Familie, dafür, wie Menschen reagieren, wenn sie mit dem Wunsch nach Hilfe beim Suizid konfrontiert sind. 20 Jahre später ließ Haneke die Wohnung seiner Eltern als Filmset nachbauen, um mit Liebe seinen sicher intimsten Film zu inszenieren, der ihm 2013 fünf Nominierungen und den Oscar als bester fremdsprachiger Film einbrachte. Wie gehen wir als Gesellschaft mit Alter, Verletzlichkeit, Sterben und Tod um? Offensichtlich hat diese Frage in den letzten Jahren an Virulenz gewonnen. In mehreren europäischen Ländern sind die Gesetzgebungen zur passiven Sterbehilfe und zum assistierten Suizid in Bewegung geraten und werden vor den höchsten Gerichten verhandelt. Das deutsche Bundesverfassungsgericht hob 2020 das Verbot einer Beihilfe zum Suizid auf. Seit dem 1. Januar 2022 ist der assistierte Suizid auch in Österreich legalisiert; im April 2022 gab es mit dem Tod der Inklusionsaktivistin Andrea Mielke einen ersten Fall von assistiertem Suizid in Salzburg. Haneke zielt mit Liebe ins ethische Zentrum dieser Debatte.
Mit dieser Koproduktion von Salzburger Festspielen und Münchner Kammerspielen wird erstmals in Österreich ein Film von Michael Haneke für die Theaterbühne adaptiert. Karin Henkel, eine der renommiertesten Regisseurinnen des deutschsprachigen Theaters und in Salzburg bestens bekannt unter anderem durch Richard the Kid & the King (2021), entwickelt einen sehr freien Zugang zu Hanekes Meisterwerk und verzichtet konsequent auf eine realistische Darstellung des klaustrophoben Kammerspiels. Vielmehr entstehen, inspiriert von Hanekes Stoff, Choreografien der Fragilität: Fernab von Figurenpsychologie bringt sie Körperlichkeit von hoher Verletzlichkeit auf die Bühne. Sie sucht mit einem großen Ensemble aus Schauspieler*innen und Laien nach sinnlichen Übersetzungen für die permanente Überforderung der Pflege und kreiert in poetischen Bildern ein Ritual, in dem sie nach einem selbstbestimmten Umgang mit Krankheit und Tod fragt.
Tobias Schuster
Die Textfassung enthält Auszüge aus Das Leben ist ein vorübergehender Zustand von Gabriele von Arnim, © Hamburg: Rowohlt Verlag 2021.
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