Hugo von Hofmannsthals Jedermann, am 22. August 1920 vor dem prächtigen Salzburger Dom in Szene gesetzt von Max Reinhardt, begründete die Salzburger Festspiele. Seither sind über 700 Vorstellungen dieses Gründungsstücks gespielt worden — ein singulärer Vorgang im deutschsprachigen Theater. Im Verlauf eines ganzen Jahrhunderts zeichnen die Jedermann-Aufführungen sowohl Zeit- wie auch Theatergeschichte nach. Die Ästhetik verschiedener Inszenierungen, unterschiedliche Spielfassungen, Regiezugriffe und Kompositionen der jeweiligen Zeitgenossen sowie die wechselnde Besetzung der ikonischen Rollen machen deutlich, was für eine große und herausfordernde Projektionsfläche der Jedermann allen Künstler*innen bis zum heutigen Tag bietet, und machen sichtbar, wie jede Zeit das Potenzial sowie die Pflicht hat, ihren Jedermann neu zu gestalten, um die Historie aktiv fortzuschreiben. Mit dem Jedermann haben Hofmannsthal und Reinhardt den Festspielen die Frage nach der Endlichkeit menschlichen Strebens mit auf den Weg gegeben und ihr einen zentralen Platz eingeräumt.
Was erleben wir, wenn der Tod in unser Leben tritt und die letzten Dinge verhandelt werden? Wenn wir nicht mehr so tun können, als ob alles ewig weiterginge wie bisher?
Im Lauf der Jahrzehnte mutierte die Frage nach dem gesellschaftlichen Umgang mit unserer Endlichkeit immer mehr zur Frage nach dem Schicksal eines — plötzlich mit dem Tod konfrontierten — reichen Mannes. Sein opulentes Ableben im fernen Mittelalter hatte nicht mehr viel mit uns zu tun. Unsere Gesellschaft wollte scheinbar nicht jedes Jahr daran erinnert werden, dass wir auch in einer medizin-technologisch hoch entwickelten Gegenwart noch sterben müssen.
Nach fast 100 Jahren beherrschte dann zum ersten Mal ein unverkennbar zeitgenössischer Alpha-Mann den Domplatz noch im Sterben mit aller Macht, bevor ein gänzlich seiner eigenen Gefühlswelt verpflichteter, virtuoser neuer Jedermann im unerbittlichen Tod seinen Meister fand.
Doch immer deutlicher sehen wir uns hier und heute mit der Frage konfrontiert, was wir erleben werden, wenn der Tod in unser aller Leben tritt, weil wir uns weiterhin mit eigener Hand unserer Lebensgrundlagen berauben und die ganze Menschheit kollektiv mit dem Tod bedrohen. Weil wir immer noch Kriege führen, Ungerechtigkeiten perpetuieren, einander und unseren Planeten ausplündern. Wie lange wollen wir noch so tun, als ob das ewig so weitergehen könnte?
Und als ob es ewig so weitergehen müsste, stehe ich mit meinen Kolleg*innen und Verbündeten, die Musik, Kostüme, Bühnenbild, Dramaturgie, Choreografie und Licht verantworten, noch einmal vor der faszinierenden, schwierigen und ungewöhnlichen Aufgabe, den Jedermann — zum dritten Mal — mit einem neuen Ensemble wunderbarer Schauspieler* innen zu entwerfen, den Text aus einem neuen Blickwinkel zum Klingen zu bringen und zu einem gemeinsamen, erneut überzeugenden Erlebnis zu machen.
Wir wollen diese wunderbare Aufgabe dazu nützen, um zu untersuchen, was passiert, wenn der Tod alles und alle gefährdet: die Liebe, die Familie, die Freundschaft, die Nachbarschaft, die Gesellschaft, die Menschheit. Wenn die Welt verdorrt und die Menschen verarmen, weil wir nicht teilen wollen. Wenn das Geld am Ende nichts mehr wert ist und man nichts mehr dafür kaufen kann. Wenn der Teufel aus der Kirche kommt und uns Rettung im Jenseits nicht mehr trösten kann? Wir sind fest entschlossen, den Glauben an die Menschen trotz alldem nicht verlieren zu müssen, weil Empathie, Barmherzigkeit und Hoffnung in allen Zeiten möglich sind.
Michael Sturminger
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