Im Lauf seines Lebens experimentiert Sergej Prokofjew begeistert mit allen nur erdenklichen musikalischen Gattungen. In jeder von ihnen schreibt er Meisterwerke, die ihm eine gewisse Anerkennung einbringen. Im Bereich des Musiktheaters überwiegen hingegen Frust und ein Gefühl des Scheiterns: Seine Opernprojekte werden ständig verkannt, verhindert, verschoben oder abgesagt – sie liegen im Widerstreit mit ihrer Zeit.
Der Spieler ist die erste große Oper des Komponisten. Er nimmt sie 1914 in Angriff, indem er einen kurzen Roman von Dostojewski bearbeitet. Darin setzt der Schriftsteller sich mit seiner eigenen Spielsucht auseinander: Er schildert den rasenden Lauf in den Abgrund, die erbarmungslose Selbstzerstörung, und seziert damit unsere Gier nach schnellem Gewinn und raschem Erfolg. Die Handlung spielt im Casino einer fiktiven Stadt, Roulettenburg, wo sich verschiedene Personen begegnen und einander die Stirn bieten – allen voran ein General, der bei einem raffgierigen Marquis hoch verschuldet ist, seine Stieftochter, die gehässige Polina, und der in diese verliebte Alexej.
Mit Der Spieler wird zum ersten Mal ein Werk Dostojewskis für die Opernbühne adaptiert. Ohne einen Librettisten hinzuzuziehen, schöpft Prokofjew direkt aus dem Roman. Dieser bietet ihm den Ausgangspunkt für eine entschieden radikale Partitur, befreit von der Unterteilung in musikalische „Nummern“ und von Anfang bis Ende getragen von packender musikalischer Prosa. Im Orchester vermittelt ein unerbittliches Ostinato die fiebrigen Leidenschaften, die das Casino erfüllen. Prokofjew schlägt sein Projekt Sergej Djagilew vor, der jedoch ablehnt. Der Komponist gibt sich nicht geschlagen und bleibt hartnäckig. Die Uraufführung scheint 1917 konkrete Formen anzunehmen, als der Regiepionier Wsewolod Meyerhold plant, das Werk am Mariinski-Theater zu inszenieren. Meyerhold sieht im Spieler die Möglichkeit einer echten Avantgarde-Oper, die imstande ist, der Gattung vollkommen neue Dimensionen zu erschließen. Zwischen Komponist und Regisseur entspinnt sich ein intensiver schöpferischer Wettstreit, der ein außergewöhnliches Resultat verspricht. Doch den Vorbereitungen zur Uraufführung schlägt von verschiedenen Seiten Misstrauen entgegen. Die Sänger·innen lehnen die Partitur ab, die sie für unsingbar erachten. Die bürgerliche Intelligenzija misstraut einem Werk, das als „futuristisch“ eingestuft wird, während die Revolutionäre Dostojewski für dekadent erklären. Die Oktoberrevolution gibt dem Projekt den Gnadenstoß: Es wird aufgegeben.
Prokofjew bemüht sich weiter, den Spieler seinen Vorstellungen gemäß zur Uraufführung zu bringen. Zehn Jahre nach der geplatzten Premiere überarbeitet er die Partitur, indem er etwa die Gesangspartien abändert und die Instrumentierung verdichtet. So entstehen Passagen von soghafter Intensität, besonders der Höhepunkt des dritten Aktes, wenn sich die Stimmen aller Spieler mitsamt ihren Sehnsüchten in einem nie dagewesenen Wirbel vereinigen.
Im April 1929 erlebt Der Spieler in Brüssel schließlich seine Uraufführung – in französischer Sprache. In Russland stehen die Umstände dem Werk feindlich gegenüber, da es in keiner Weise dem Kanon des Sozialistischen Realismus entspricht. Meyerhold fällt den stalinistischen Säuberungen zum Opfer und wird 1940 hingerichtet. Die Oper der Avantgarde, die zwei visionäre Künstler erträumt haben, wird nicht realisiert. Die erste russische Produktion findet erst 1974 statt, beinahe 20 Jahre nach dem Tod des Komponisten.
Prokofjews Oper bietet heute eine verblüffende Relevanz und Aktualität. Unsicherheit und Angst sind in unserer Zeit allgegenwärtig. Mit jedem Morgen setzt man neu. Ganze Vermögen werden im Handumdrehen angehäuft oder verloren. Mehr als je zuvor sind das Casino und die Spannung, die es durchdringt, Metaphern unserer Welt, ihrer Raserei und ihrer Abgründe. Wetten wir, dass der Regisseur Peter Sellars, der für seine eindringlichen Interpretationen verkannter und vergessener Meisterwerke berühmt ist, uns dazu bringt, den gleichen Mut zu zeigen, wie Dostojewski und Prokofjew: den Mut, uns den eigenen Schattenseiten zu stellen; den Mut, unsere moralischen Widersprüchlichkeiten zu ergründen; den Mut, uns selbst ins Gesicht zu sehen.
Antonio Cuenca Ruiz
Übersetzung aus dem Französischen: Fedora Wesseler
mehr dazu
weniger anzeigen