Nathan der Weise
Nathan der Weise
Der Regisseur Ulrich Rasche, berühmt für seine formalen chorischen Inszenierungen, beschäftigt sich in diesem Sommer mit Lessings Nathan der Weise, einem zentralen Werk der Aufklärung, in dessen Fokus Toleranz und unterschiedliche Identitätsentwürfe stehen. Im Gespräch mit Bettina Hering formuliert er seine Gedanken zu dem dramatischen Gedicht.
Das Stück baut auf der Ringparabel auf, die davon erzählt, wie die drei monotheistischen Religionen tolerant miteinander umgehen sollen. Der Toleranz-Gedanke, der im Zentrum steht, kennzeichnet den gesamten Abend. Daneben findet sich aber auch eine Verwandtschaftsgeschichte. Am Ende des Stücks stellt sich heraus, dass alle Figuren, von denen man zunächst glaubte, dass sie sich nicht vertragen, miteinander verwandt und in einer Familie gebunden sind. Der Tempelherr und Recha etwa kamen nicht zueinander, weil er das Mädchen aufgrund des Glaubens ablehnte und deswegen keine Liebesbeziehung aufbauen konnte. Am Schluss erfahren wir, dass sie Bruder und Schwester sind. Wir erkennen also, wie unterschiedliche Figuren und Identitätsentwürfe zueinanderkommen. Das heißt, letztendlich geht es um die Versöhnung der Menschen untereinander.
Interessant ist, dass sich die Zuschreibungen von Identitäten, die zu Beginn des Stücks stattgefunden haben, nicht aufrechterhalten lassen, sich auflösen oder verändern – oder sie greifen nicht mehr. Sie werden als Konstruktionen der Gesellschaft sichtbar, die an der Realität vorbei zu Diskriminierung, zu Antisemitismus, zu Ausgrenzung führen. Ich glaube, wir leben in einer Welt, in der Abgrenzung und damit Ausgrenzung immer noch konstitutiv für unser Verhältnis zueinander sind. Und Ausgrenzung funktioniert natürlich auch über Religion, wenngleich Religion nicht mehr jene Rolle spielt wie zur Zeit der Kreuzzüge im 12. Jahrhundert, in der das Stück ja spielt. Tatsächlich ist es aber lohnend, über die Religion und die damit verbundene Ausgrenzung, Abgrenzung, Identitätskonstruktion neu nachzudenken, denn an die jeweilige Religion sind Lebensformen, Vorstellungen vom Zusammenleben, von Heirat, Liebesbeziehungen, vom Verhältnis zwischen Schwestern und Brüdern gebunden. Mit diesen unterschiedlichen Lebensformen werden wir konfrontiert, wenn Menschen aus anderen Kulturkreisen zu uns kommen. Wir müssen lernen, mit ihrer Religion, mit ihren Lebensformen zusammenzuleben, auch wenn sie uns fremd erscheinen. Sie kennenzulernen, das Fremde zu akzeptieren, zu tolerieren – das scheint mir heute immer noch ein wesentlicher Diskussionspunkt zu sein.
Nathan der Weise heute aufzuführen bedeutet also, den Gedanken der Toleranz zu überprüfen. Können wir mit Lessings Gedanken heute überhaupt noch etwas erreichen? Können wir damit etwas erzählen? Ich glaube, dass an dieser Erzählung eine diverse Gruppe von Menschen beteiligt sein muss, und wir haben deshalb unterschiedlichste Menschen eingeladen, an dieser Inszenierung teilzunehmen.
Ulrich Rasche • Regisseur
zuerst erschienen in der Festspielbeilage der Salzburger Nachrichten