30 Mrz 2022

Marieluise Fleißer Ingolstadt

Für Elfriede Jelinek ist Marieluise Fleißer die „größte Dramatikerin des 20. Jahrhunderts“ – im Sommer kann man Fleißers sprachgewaltiges Werk in Ivo van Hoves Ingolstadt-Projekt wiederentdecken. Bereits im November 1971 erschien das folgende Interview mit Marieluise Fleißer, das André Müller aufzeichnete.

Sie wohnt in einem Neubau, Ingolstadt Nord, in einem von diesen unpersönlichen Kästen, wo man nur graue Mäuse vermutet, weil alles so grau ist. Erster Stock. An der Tür ist ein Messingschild: Fleißer-Haindl. Josef „Bep“ Haindl war ihr Mann, ein Tabakwarenhändler. Als die Fleißer ihn kennenlernte, war sie mit Brecht schon längst auseinander. Ihre berühmte lange Phase des Schweigens begann. „Ja, mei, da täten Sie auch nix schreiben, wenn Sie heiraten und einen Haushalt besorgen und im Geschäft arbeiten müssen. Da gibt’s endlose Scherereien mit so kleinem Zeug in so einem Großhandel.“

Interessierte den „Bep“ Ihre Dichtung?
„A, keine Spur, das war ein ganz primitiver Schwimmer, wir haben uns beim Schwimmen kennengelernt. Für den war das ja was Spinnertes, daß er eine Frau hat, die schreibt. Mit dem hab’ ich halt geschwommen und bin in den Wald mit ihm, er hat mir Ingolstadt gezeigt, die Umgebung, die kleinen Gäßchen, zuerst hat mich das sehr gereizt,
bis ich dann drinsteckte, angehängt wie ein Kettenhund, dann hab’ ich gelöckt wider den Stachel, aber da war für mich nichts mehr zu machen.“
Das Nazi-Regime verdammte die Dichtung der Fleißer, vor allem Die Pioniere in Ingolstadt, verbrannte in Berlin ihre Bücher, verbot ihr zu schreiben.

Und nach dem Krieg?
„1950 ist dann der Starke Stamm gespielt worden. Da hab’ ich zweitausendvierhundert Mark eingenommen. Tausend hab’ ich gleich für eine Schreibmaschine verbraucht. Dann hat mein Mann durch einen Teilhaber sein ganzes Vermögen verloren. Dreiunddreißigtausend Mark Schulden. Dann ist er herzkrank geworden. Da geht man nicht weg von einem Mann.“
Die Füße der kleinen, etwas geduckten Frau, die da sitzt, reichen kaum bis zum Boden. Durch ihre dickglasige Brille sieht sie mich unentwegt an. An der Wand hängt ein Jugendfoto von ihr. An der anderen Wand hängen gerahmte Fotos von Brecht, der Giehse und Rainer Werner Fassbinder. Das Brecht-Foto wirkt wie ein Fremdkörper hier.

Reden Sie gern über Brecht?
Sie nimmt einen Anlauf, atmet tief. „Ich möchte betonen, daß ich eigentlich keine Brecht-Nachfolgerin bin im Schreiben.“

Sie schaut zu dem Foto hinüber. 1924, auf einem Schwabinger Künstlerfest, lernte sie Lion Feuchtwanger kennen und zeigte ihm ihre Gedichte. „So Ergüsse halt, irgendwie lyrisch. Da hat der Lion gesagt, das ist ja lauter Expressionismus, das ist so verkrampft, ein junger Mensch darf ja verkrampft sein, aber so schreibt man nicht heute, man schreibt neue Sachlichkeit. Da bin ich so wütend geworden, daß ich alles verbrannt hab’.“

Danach entstanden das Stück Fegefeuer und der Erzählband Abenteuer aus dem Englischen Garten. Feuchtwanger zeigte Brecht Fegefeuer. 1926 lernte die Fleißer in Feuchtwangers Wohnung in der Georgenstraße Brecht kennen und erzählte ihm von den Pionieren, die nach Ingolstadt zu Manövern gekommen waren.

„Da hat er gleich gesagt, schreiben Sie doch ein Stück über die Invasion von Soldaten in einer kleinen Stadt. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, wäre mir nicht im Traum eingefallen. Dann bin ich halt mit den Soldaten spazierengegangen, weil der Brecht gesagt hat, da müssen S’ spazierengehen mit denen und aufpassen, was die reden. Das Stück ist aber dann doch nicht ganz so geworden, wie er es sich vorgestellt hatte.“
1929, nach der Berliner Uraufführung mit Skandal von rechts, kam es zum Krach mit Brecht.

Marieluise Fleißer INGOLSTADT
Nach dem Schauspiel Fegefeuer in Ingolstadt sowie der Komödie Pioniere in Ingolstadt
In einer Bearbeitung von Koen Tachelet

Neuinszenierung
Perner-Insel, Hallein
27., 29., 30. Juli, 1., 2., 4., 5., 7. August

Koproduktion mit dem Burgtheater Wien

Autor: André Müller
Gekürzte Fassung
Erschienen am 23. November 1971 in der Münchner Abendzeitung unter dem Titel „Die Welt wird nie gut.“